Geheimnis
- Es gab eine Zeit
- da musste mein Geheimnis
- um jeden Preis sicher
- bewahrt werden
- vor gierigen Augen
- und druckerschwarzen Fingern
-
und spöttisch lachenden Kehlköpfen
- einmal klopfte es
- klopfklopfklopf
- wer ist da: keine Antwort
- man hustete vor meiner Tür
- und es klopfte noch einmal
-
klopfklopfklopf
- ich sagte: ich komme
- gleich und liess Wasser laufen:
-
Tarngeräusche
- und suchte
- all das Papier zusammen
- Verbrennen würde Asche hinterlassen
- dachte ich
- und begann
- zu essen, hinunterzuschlingen
-
zu schlucken, ohne zu kauen
- und mit vollem Mund wiederholte ich:
- ich komme gleich ich wischte
- mir mit dem Ärmel meines Pullovers den Mund ab
- dann öffnete ich
- mit einem Magen voller Worte
-
die Tür
- ja, bitte?
Kommentar von Nick Lüthi
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
mirabellenlieder
- auf der ebene liegt flanell
- die erste sonne greift danach
-
fasane zerhacken die luft
- kindgewordener morgen
-
malt pastell ans vordach
- der leuchtturm fällt in tiefen schlaf
- versäumnisse verebben
- mirabellenlieder hallen nach
Kommentar von Nick Lüthi
Franziska Witschis Text zeichnet eine Landschaft. Eine Landschaft, die idyllisch vor sich hin plätschert; alles ist wollig eingepackt und in Pastelltöne gelullt, selbst die Lichtquellen legen sich erschöpft – wie auch die menschlichen Fehler – in die Stille dieser Landschaft. Und dann hallen noch sanft fruchtige Lieder nach. Alles schön und wunderbar behaglich, so macht es den Anschein. Und wirklich durchbrochen wird die Idylle des Gedichts tatsächlich nie, die Fasane treten zwar als Störfaktor auf, aber zu einem offensichtlichen Durchbruch kommt es nicht. Franziska Witschis Text erzählt in Unter- und Zwischentönen, vielleicht von der Ruhe vor dem Sturm, vielleicht vom pastellfarbenen Glück und vielleicht auch von einem angstmachenden Zustand des Stillstands.
Es passt hervorragend, verfasse ich diesen Text während der 153 km/h schnellen Vorbeifahrt an einem orange-grünen Kürbisfeld, weil diese Erfahrung mit dem Stillstand des Gedichts kontrastiert. Während ich vorbeirase bewegt sich das Gedicht um keinen Millimeter, die einzige Bewegung kommt von den nachhallenden Mirabellenliedern, die im Text poetisch überhöht werden. Es scheint eben alles zu idyllisch, um wahr zu sein. Und in gewisser Hinsicht ist es das auch, das tatsächliche Mirabellenlied ist ein heimatkitschiger Walzer, jedes Jahr zum Eisenbacher Mirabellenfest besungen. Meine Reaktion bei der Recherche ist Trotz: Ich will nicht wahrhaben, dass dieses kunstvoll in die Landschaft gelegte Mirabellenlied in einer Realversion existiert und etwas anderes ist, als Teil der im Text besungenen Idylle. Aber dem Trotz zum Trotz: Die Aneignung des Mirabellenlieds ist so vollkommen – auch weil es im Plural gesetzt wird und somit noch auf andere Mirabellenlieder verweist – es wird unwesentlich, ob es die besungene (im Lied und im Text) Idylle überhaupt gibt, weil man als Leser:in, verzaubert von den Mirabellen und der sich darin aufspannenden Landschaft, einfach froh ist ob der Tatsache, dass es Lieder gibt, die nur für Mirabellen geschrieben worden sind.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
geizige kinder auf amphetamin & weitere bestandsaufnahmen
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das klicken einer schabe die an die decke knallt
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drohungen die mich eher zufällig erreichen
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im hotel california ohne es zu wissen
- zu viel abendland verdächtig
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zu viel telepathie
- verlege bleistift verliere wimpern
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kenne den umfang meiner wohnung nicht
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aber witterung
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ein echo das nicht mehr zurückzuführen ist
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versuch eine häutung in echtzeit zu protokollieren
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im stundenzimmer für gespenster
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oder dreihundertsechzehn arten wund zu sein
- treibgut das ich auflese
- als handgepäck
Die Zeile «zu viel abendland verdächtig» ist in leicht abgewandelter Form dem Gedicht Fußnote zu Rom von Günter Eich entnommen.
Kommentar von
Geizige kinder auf amphetamin ist in mehrfacher Hinsicht mit den Gedichten des Schriftstellers Günter Eich verbunden, die mich, trotz sehr verschiedener historischer Umstände, geprägt und inspiriert haben, seit ich mich überhaupt für Lyrik interessiere. Eine dieser Verbindungen liegt in einem direkten Zitat der Worte «Zuviel Abendland, verdächtig» aus Günter Eichs Gedicht Fußnote zu Rom – ein Credo, auf das bei Eich in der nächsten Zeile allerdings nicht die Telepathie folgt, sondern «Zuviel Welt ausgespart». Ich weiss nicht mehr, wie und warum die Abendland-Zeile in meinen Text eingegangen ist, ich schreibe zu assoziativ und ungeplant, als dass ich solche Beweggründe rekonstruieren könnte. Ich vermute aber, dass es ein intuitiver Wunsch des Versschmuggels war, ein Versuch, Günter Eich nicht nur als gedanklichen Ankerpunkt, sondern auch als O-Ton mitzuführen, als Treibgut eben. So, wie ich mir vorstelle, dass all die bewussten und unbewussten Verweise auf andere Autor:innen und Werke eine Art des intimen Gepäcks darstellen, im besten Fall Handgepäck, das man möglichst nahe bei sich und seinem Körper trägt und auch bei Sicherheitskontrollen nicht abzugeben bereit ist, selbst wenn es dafür öffentlich durchleuchtet wird.
Formal und konzeptuell gesehen ist geizige kinder auf amphetamin eine sehr direkte Referenz an Eichs Gedicht 17 Formeln, das in Form einer Liste 17 nummerierte Gedankensplitter aufführt; formelhafte, rätselhafte Mantras; manchmal auch nur ein einziges seltsames Wort wie «Fischbeinschwäche». Diese Struktur einer Liste voller einbeiniger Verse habe ich, wiederum inspiriert von Eichs bekanntem Text Inventur von 1945/46, für mich mit dem Versuch einer Bestandsaufnahme gefüllt, auch wenn dies bei geizige kinder unter sehr viel weniger existenziellen Bedingungen geschieht, als es bei Eich nach seiner Kriegsgefangenschaft der Fall war.
Was bleibt ist die Überzeugung, dass jede Zeit und jeder Ort von Heimsuchungen und Verlusten durchzogen ist und dass wichtig bleibt, zu bezeichnen, was fehlt und was noch da ist, was glaubwürdig ist und was an Glaubwürdigkeit eingebüsst hat, wobei das Zwielichtige oftmals überwiegt: Das Geräusch einer Schabe, die an die Decke knallt, bietet nicht viel Orientierung, wenn man die Wimpern verliert und den Umfang der eigenen Wohnung nicht kennt. Auch hier ist also noch «Zuviel Welt ausgespart», das Hotel California ist ebenso verdächtig wie das Abendland als Ganzes, und der Versuch, etwas «in Echtzeit zu protokollieren» scheitert fast immer. Und doch schwemmt es weiterhin Treibgut an; «treibgut das ich auflese / als handgepäck».
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
die betäubung erfolgt durch insekten
- leben, die wie krokusse wachsen
- eine zierpflanze, andere safran
- manche nur zum scheinkrokus oder zeitlosengewächs
- sind sie ausdauerndes knollenkraut
- glatt der blattrand
- um den mittelnerv
- stehen die blüten einzeln
- oder zu vielen
- erwachen im frühjahr oder herbst
- gelb, weiss, hell-violett
- zwittrig, symmetrisch und dreizählig
- im boden ihr fruchtknoten
Kommentar von Nick Lüthi
Viel mehr als den Artikel zum Singular; der oder das Krokus – die Artikelverschiebung zu das ist ein Helvetismus – braucht man Frieda von Medings Gedicht nicht mehr hinzuzufügen, weil es die weiteren Merkmale des Gewächs’ poetisch umschreibt. Wichtiger als die Beschreibung werden dadurch die beiden einzigen Momente des Gedichts, in denen es sich von der Wahrheit respektive dem eigenen Untersuchungsgegenstand abwendet. Dies geschieht einerseits im Titel, in dem sich die durch Insekten eigentlich erfolgende Bestäubung zur «betäubung» verschiebt, andererseits in der ersten Zeile, in der die Pflanzen zur Metapher dienen: «leben, die wie krokusse wachsen». Durch dieses initiale Framing erhebt sich das Gedicht von einer rein poetischen Beschreibung der Krokusse und eröffnet einen breiten Assoziationsspielraum.
Angenommen, dass die gemeinten Leben nicht Pflanzen, sondern Menschen sind, stellt sich die Frage, was der Text für weitere Bedeutung mitträgt. Die Zierpflanzen und Knollenkräuter sind noch ohne mentale Gymnastik als Analogien auf den Menschen übertragbar, aber spätestens der glatte «blattrand» macht stutzig; die Leben fächern sich doch an den Rändern eher aus und bedürfen der Pflege (und des Glücks) um glatt zu erscheinen. Ganz sicher wachsen sie nicht einfach so. Spielt man die durch die beiden Stellen aufgerissenen Abgründe weiter durch, verwandelt sich die vermeintliche Wahrheit des Texts in ein schwer fassbares Monstrum – fast wäre ich versucht zu sagen, in eines mit stark voneinander abgesetzten Körperteilen und genau drei Beinpaaren. Und wenngleich man all die weiter entstehenden Bilder ignoriert; es bleibt die Betäubung. Die Krokusse können gar nicht betäubt werden, sonst wäre das Gedicht nach der ersten Zeile fertig – weil Wachstum unmöglich geworden ist. Frieda von Medings Gedicht zerpflückt die Wahrheit in die einzelnen Bestandteile einer Pflanze. Zuerst wird die vermeintliche Wahrheit aufgezogen – das fehlende «s» im Titel ist leicht zu überlesen – die sich dann als offensichtlich falsch entpuppt und sich auffächert. Bis an den Rändern alles glatt erscheint, und sich die Leben «gelb, weiss, hell-violett» schimmernd erheben. Wie Krokusse eben.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
während das flachland explodiert
- während das flachland explodiert
- – räusper –
- stetiges rauschen, knirschen, gleissendes licht
- eis, matt von der sonne
- wind, der sanft um die häuser bricht
- fragt einer: hämmern wir nägel in die wand
-
ein anderer: where are the rough sides of reality here
- die zeit hängt schon lange nicht mehr, sage ich
- der hölzerne klappstuhl biegt sich gefährlich
- unter meinem gewicht
-
der winter stirbt einen würdelosen tod
- and what about the water
Kommentar von Nick Lüthi
In seiner Wuchtigkeit lässt uns Daria Wilds Gedicht ratlos zurück. Was wird hier beschrieben: das Vergehen des Winters oder eine Apokalypse? Das Eine wäre weit weniger dramatisch wie das Andere. Das Gedicht erreicht diese Wirkung mittels geschickten Auslassungen und eingestreuten Zweideutigkeiten. Ist das Flachland geografisch gemeint oder bezieht es sich auf einen Gletscher? Ist die Idylle nur gespielt, wenn ein anderer danach fragt, oder ist hier bereits die Hölle los, weil die Nägel an die Wand kommen müssen? Oder zeichnet sich damit nur ein herkömmliches Bild einer Ankunft auf dem Land ab? Eine Darstellung des wortwörtlichen Sesshaftwerdens, welches sich zwar auf dem Klappstuhl ins Unheil hineinbiegt, noch aber nicht durchbricht? Und dann steht da trotzdem wieder die Frage nach dem Wasser im Vordergrund: Ja, was ist denn nun mit dem Wasser?
Eine erste Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach Apokalypse und Winter wäre demnach, dass der Text beides vermengt. Der Winter vergeht und sein Vergehen kommt einer Apokalypse gleich, weil wir weiterhin in den Klappstühlen sitzen, dem Eis beim Sterben zuschauen und uns zwar nach dem Wasser sorgen, aber erstarrt in unserer Position verharren. Diese Lesart ist aber bereits von einem aktivistischen Kern durchzogen, denn das Gedicht enthält sich: Wir wissen von drei Menschen, die sich unterhalten, von Häusern, sanftem Wind und von einer gewissen Uneinigkeit, die zwischen den dreien herrscht. Mehr nicht. Konsequenterweise müsste man sich also fragen, gibt es eine weitere Lesart, die nicht von den eigenen Vorurteilen verbogen wird – ein Weder-Noch? Es gehört zur Stärke dieses Gedichts, dass es uns verschiedene Lesarten über sein eigenes Flachland zur Hand reicht und es an uns Leser:innen ist zu entscheiden, ob die Explosion apokalyptisch wirkt und falls ja, für wen: Für alle, für die drei Beobachtenden oder nur für diejenigen, die im Text nicht aktiv auftauchen? Die Sache bleibt offen, ganz bewusst, weil es vermutlich keine gute Antwort auf die Frage gibt, ob sich nur die Jahreszeiten abwechseln, oder ob durch diesen Wechsel die Apokalypse Einzug hält. Wichtiger ist demnach, dass man sich der Frage – trotz aller Uneinigkeit – stellt.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
das geilste
- fanny pack vibriert
- wenn du mir jetzt schreibst
- um die hüfte geschnallt
- lässt die vibration, die du auslöst
- mein fudi, in kleinen wellen wabbeln
- ich tu so, als würd’ ich nicht merken
- dass du an mich denkst
- dabei spür’ ich den wellen bis zum ende nach
- du schickst mir fotos, von wo du bist
- und das geilste ist
- dass ich echt lange so tun kann
- als würde es mich nicht interessieren
Kommentar von Nick Lüthi
Es mag nicht für den Reichtum meines Geistes sprechen, aber hingezogen zu diesem Gedicht hat mich das in kleinen Wellen wabbelnde «fudi» des lyrischen Ichs. Einfach, weil ich das lustig fand und weil das Wort aus einem unpassenden Sprachregister kommt, verglichen mit dem restlichen Gedicht. Ganz bewusst löst sich damit ein Moment der Irritation aus. Dieser Irritationsmoment ist für das Gedicht zentral, weil damit der imaginierte Austausch zwischen lyrischem Ich und der Textnachrichtenschreiber:in ausgelöst wird. Metaphorisch wird durch das wabbelnde Hinterteil die Kommunikation der beiden in den eigenen Körper überführt. Die Nachrichten manifestieren sich physisch (Vibrationswellen) und stossen die vermeintliche Reflexion an. Dabei bleibt unklar, ob die Erzählinstanz zuverlässig ist, weil sie einerseits um den Inhalt der Nachrichten weiss, obwohl sie sie andererseits erfolgreich ignoriert; aber in der durchexerzierten Verknüpfung von Gleichgültigkeit und Wahrheit scheint die unbestimmte Erzählart ganz passend.
das geilste ist ein schlichtes Gedicht, das nicht mehr vorgibt zu sein, als es ist. Es beschreibt einen Austausch zwischen zwei Menschen und den wohltuenden Aspekten, die damit verbunden sind. Gleichzeitig stellt es die Frage des Etikettenschwindels: Geht es hier wirklich um das Geilste? Was genau wäre denn das Geilste? Die Fähigkeit der Erzählinstanz, die Nachrichten des Gegenübers möglichst lange zu ignorieren? Oder dann doch die Überführung des Austausches ins Physische? Die Form der Beziehung – und deren Gesünde – lässt sich nicht aus dem Gedicht erschliessen. Es bleibt daher offen, ob dieses Gedicht wirklich schlicht, oder nur nicht bereit ist, sofort mehr zu offenbaren. Zumindest eines lässt sich aber festhalten, das wabbelnde Fudi ist zwar Ausgangsmoment, das Gedicht erschöpft sich jedoch nicht darin, denn die Antwort auf die eigene Erschöpfung, die bleibt es uns schuldig.
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Aus: NEUROTIKON
- Ich habe einen musealen Saal, ein Kabinett der Gedanken, mit Vitrinen, worin meine Sammlung in minutiös sortierter Ordnung aufbewahrt und zur neugierigen Betrachtung aufbereitet ist. Die Exponate sind wie Schuppen hauchfeiner Schichten des Glimmers, durchsichtig, ephemer, schwerelos. Nur mit speziellen Pinzetten sind sie zu greifen, denn jede Berührung kann sie zerfallen lassen, jedes Ansetzen zu einer Berührung.
Kommentar von Nick Lüthi
Faktisch scheint Alexander Estis' Gedicht nicht korrekt zu sein. Welches Museum hat alle Exponate «zur neugierigen Betrachtung aufbereitet»? Welches Gedächtnis funktioniert so gut, dass es seine gedanklichen Gegenstände «in minutiös sortierter Ordnung aufbewahrt»? Das darauf aufbauende Sprachbild scheint dem Harry-Potter-Kosmos entlehnt, wo sonst lassen sich Gedanken schwerelos mit einer Pinzette (oder einem Zauberstab) herausziehen? Zerbrechlich sind sie, die Gedankenstücke, aber immerhin wohlsortiert. Doch woher kommt diese Ordnung?
Das Gedicht beantwortet keine dieser Fragen. Es bleibt unbeschrieben, was das lyrische Ich mit den Gedanken anstellen soll, sobald es sie aus dem Kabinett gezogen hat. Schweben die Gedanken danach («ephemer»? unsortiert?) im Saal, der sie bereits beheimatet? Oder zieht es sie weiter, an Orte, die sich der Ordnung und der Vollständigkeit entziehen? Weil uns die Antwort verweigert wird, bleiben wir Besuchende eines Museums, die die zugrundeliegenden Geschichten einzig anhand der Exponate erleben können. Wir erfahren eine schwebende, fragile Sammlung, deren Verwendungszweck genauso unbekannt ist, wie das Motiv der Betrachtung. Weil schlussendlich sogar unklar bleibt, ob wir Besuchende sind, oder eine Beschreibung eines Besuchs erzählt bekommen: Stehen die Exponate der Öffentlichkeit offen oder doch nur dem lyrischen Ich?
Die Zerbrechlichkeit des Betrachteten steht im Vordergrund, eine Beurteilung der Gegenstände ist erst vollständig möglich, wenn sie herausgezogen worden sind; sich aus dem Kosmos des zu Bestaunenden lösen und eine gewisse Materialität erfahren. Dadurch verändert sich zwangsläufig ihre Qualität und es bleibt eine abschliessende Frage: Ist dem Bestaunten so noch zu trauen?
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Gedicht nach dem Abendbrot
- Die Königin weinte
- Subtexte von Glück
- dem Sperlingsvogel (v)iel
- eine Perle vom Kleid
- die Königin lachte
- ein schwarzgelber Käfer läuft quer hier durchs Bild
- Müdigkeit verwischt meine Schrift
Kommentar von Nick Lüthi
Drei Figuren tummeln sich in Melanie Katz' Gedicht: Eine Königin, ein Sperlingsvogel und ein schwarzgelber Käfer. Sofort werden Assoziationen zu Märchen wach, etwa zu «Das singende springende Löweneckerchen» der Gebrüder Grimm, dazu passend auch die Perle. Das Gedicht selbst sagt aber bereits, dass es mit Subtexten arbeitet, wir es also nicht allzu wörtlich nehmen dürfen. Wobei, natürlich, die explizite Nennung des Subtextes wiederum dafür spricht, das Gedicht wortwörtlich zu nehmen. Betrachten wir die Figurenkonstellation erstmals ohne Subtext nach den Handlungen: Die Königin lacht und weint, der Vogel verteilt (unfreiwillig) Perlen, und der Käfer unterbricht die Anordnung. Betrachten wir die Subtexte, offenbart sich eine vierte Figur, das lyrische Ich, welches die ganze Entwicklung festhält und durch den Käfer gestört wird. Es ist zu vermuten, dass es dieses lyrische Ich ist, auf den der Titel referenziert, welches also nach dem Abendbrot die Situation festhält.
Mit Erkennen der vierten Figur, ist trotzdem noch wenig über das Gedicht gesagt, auch, weil es sich vor klareren Aussagen verschliesst, ja verschliessen will. Da ist die seltsame Anordnung, die an ein Märchen erinnert, sich aber nicht im Genre des Märchens auflösen lassen will. Das ominöse lyrische Ich, dass alles festhalten möchte, schlussendlich aber von der Müdigkeit davon abgehalten wird. Der Sperlingsvogel, der die Perlen nur auf der lautlichen, nicht aber auf der textlichen, Ebene zum Fallen bringt und der Käfer, der das Bild zerstört. Kurzum, es bleibt mysteriös. Aber, und das möchte ich jetzt als letzte Lesart ins Feld führen, ohne Subtexte ist alles gar nicht so mysteriös, wie es scheint, sondern entspricht der tatsächlichen Szene nach einem Abendbrot, einfach in Gedichtform und entsprechende Metaphern gepresst. Anders gesagt, ein flüchtiger Moment des Glücks, der sich nach dem Abendbrot während einer Schreibblockade einstellte. Wenn nur dieser vermaledeite Käfer und die Müdigkeit nicht wären.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
wegen dir
- wegen dir
- ich bin dein strandtier
- land dir eine welle
- helle möwe seelöwin
- bin flügel flossen träne
- fernweh in der mähne
- sehnsucht ohne ort nur
- ferner als fort bin tand
- im sand hier samttier
- hand dir voll herz
- bis zum rand stand
- steh‘ hier wegen dir
Kommentar von Nathalie Schmid
«wegen dir» ist ein Gedicht, das ich sofort laut lesen will, meine Stimme hören will, wie sie mit den Worten Fahrt aufnimmt, schneller wird, lauter vielleicht, dann wieder leiser, etwas langsamer. Ich will den Text ausprobieren, ihn in seinem Tempo auf mich einwirken lassen, in seiner Verspieltheit, seinem Klang. Er übt einen Sog aus, der macht, dass ich ihm meine Stimme geben muss, ist also ein Text, der meinen Körper meint, der auf mich als Instrument abzielt, mich als Klang- und Resonanzkörper, dem ich mich physisch nicht entziehen kann. Und kehrt damit zur Urform des Gedichts zurück, zum Lied, Gebet, Kindervers, dem Ton eines Musikinstrumentes. Wird zum direkten Weg in den Körper, spürbar für alle, die es zulassen.
Mir fällt ein Zitat von Robert Frost ein, an das ich mich ungefähr so erinnere: Wörter allein übermitteln noch keine Bedeutung - es ist ihr Klang, der dies tut. Und das ist es, was in diesem Gedicht mit mir passiert, obwohl mich die Bedeutung der Wörter auch trifft. Dieses lyrische Ich, das irgendwo steht, an einem Strand, am Rand vielleicht und alles sein will für das Du, wegen dem es eben hier steht. Vielleicht würde es überall stehen, und dieses Alles könnte alles Mögliche sein, aber es braucht genau diesen Klang, damit er den Beat ergibt, der mit Reimen erzeugt wird, Schlaginstrument und Fundament für den entstehenden Rhythmus. Da ist die Art und Weise, wie Vokale aufeinanderfolgen, als würden sie sich ergänzen, nicht einfach wiederholen, die kurzen Zeilen, die die Geschwindigkeit herstellen, das knackige, kraftvolle, verdichtete Lesegefühl.
Juliane Blech ist eine Dichterin, die mit Worten jonglieren kann, als wäre es etwas Leichtes, sie in die Luft zu werfen, ein paar Mal im Kreis fliegen zu lassen, um sie wieder aufzufangen und landen zu lassen im Text. Sie versteht es, Leidenschaft und Begehren so darzustellen, dass sie für mich immer auch körperlich erfahrbar werden. Sie schreibt Liebesgedichte, die nicht nur von der Leidenschaft für ein du sprechen, sondern auch von der Liebe der Dichterin für die Worte und ihren Klang. So wie die Stimme dem Gedicht einen Körper gibt, wirkt das Gedicht auf den Körper. Ich weiss nicht, wie lange Juliane Blech braucht, um einen Text wie «wegen dir» zu schreiben. Es wirkt auf mich, als hätte sie ihn in ihrem Körper gehört und nur noch hinschreiben müssen. Aber aus eigener Erfahrung weiss ich, dass dieser Eindruck täuscht. Immer, wenn es leicht scheint, ist grosse Kunst am Wirken.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Wintermorgen, diaphan
- die Bäume stehen leer …
- als feinster Dunst hängt Nebel
- in der Luft; und die Sonne milchigweiß,
- bleich wie der Mond am Himmel.
- Ist dem Moment zu trauen? Ungeschützte
- Augen können in die Sonne schauen!
- Die Kamera gezückt, gezoomt.
- Das Bild – beinah schwarzweiss – hält
- klar erkennbar zwei Sonnenflecken fest,
- zwei Magnetfelder sich dunkel von der
- Sonnenkugel abhebend. Der durchsichtige
- Dunst ist der perfekte Filter; mein Ich löst
- sich in Selbstvergessenheit
Kommentar von Nathalie Schmid
Ich muss zugeben, dass ich die Bedeutung von diaphan nachschlagen musste. Dabei murmelte ich das Wort immer wieder vor mich hin. Einerseits, weil ich es mir einprägen wollte, andererseits, weil es so wunderbar klingt, so viel klangvoller und passender als durchscheinend oder durchsichtig. Etwas Zartes schwingt mit, etwas Durchscheinendes, Klang und Bedeutung verschmelzen. Es ist mir vollkommen klar, warum Ingrid Fichtner dieses Wort wählt, um ein Licht zu beschreiben, das erst noch einen Schleier durchdringen muss, bevor es bei uns landet, als käme es von einer sanften Sonne, wie es sie nur im Winter gibt, als bräuchte man sich nicht vor ihr zu schützen. Ein Wintermorgen, der in Gedicht und Bild festgehalten werden will, der etwas Sphärisches hat, wie das Gedicht, das ihn in Wort und Bild festhält. Nach einem kurzen Zögern («Ist dem Moment zu trauen?»), bringt der Reim die Versicherung: «Ungeschützte/ Augen können in die Sonne schauen!». Das Bild wird gemacht.
Ich bin eine Naturlyrikerin, schreibt Ingrid Fichtner, als sie mir den Text schickt. Und die Naturlyrikerin weiss, dass sie mit ihrem Blick in die Natur Bilder frei legt, die immer mehr sind, als ein Abbild, mehr als ein Foto, das der Text mit Worten erschafft, sie weiss, dass die Bilder, eingebettet in Rhythmus und Klang ihre Wirkung und ihre Bedeutung vertiefen und vervielfachen. In der Natur finden sich die «Filter», die unseren Blick für einen Moment ausweiten, gar von etwas zu lösen vermögen, das wir Ich nennen. Das Gedicht endet an diesem Ort und lässt uns dort zurück, das Ich löst sich nicht auf, es löst sich von etwas ab, was vorher anders gesehen wurde. Die Frage, ob dem Moment, der beobachtet wird zu trauen ist, wird zur Frage, ob dem Blick zu trauen ist. Denn immer liegt ein Filter zwischen mir und der Welt, zwischen mir und meinem Blick auf die Welt. Dieser Filter wird hier wahrnehmbar gemacht und aufgezeigt. Es sind immer verschiedene Schichten und Dimensionen der Wahrnehmung, die unseren Blick lenken. Sich davon zu lösen ist eine Übung in Ausdehnung und Selbstvergessenheit. Eine Kunst, die dieses Gedicht perfekt beherrscht.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Folgende Bedeutung
- Sein Lieblingswort ist das Gegenteil,
- das sich im richtigen Augenblick in Luft auflöst.
- Metaphysik, ruft er, ist die falsche Richtung –
- oder waren die Möglichkeiten, die ein Ich ergeben,
- schon immer diese ausgestopften Singvögel?
- Um herauszufinden, was die Gedanken
- miteinander verbindet, trägt er ein paar Hüte zuviel.
- Wenn er auf der Suche nach nichts ist,
- erwartet er einen angemessenen Finderlohn.
- Vom Etwas, ruft er, habe ich die Ahnung
- des Kochs von der Zwiebel der Vorstellung.
- Zugegeben, wer dem aktuellen Fragenkatalog folgt,
- tut das mit von Luft verbundenen Augen.
- Bis zur Schwerelosigkeit des Konjunktivs
- zähle ich in die Wochenmitte zurück.
- Sprich mit mir, solange die Landschaft
- als spontane Erscheinung vorbeizieht.
- Nein, ich bin nicht die Zusammenfassung,
- für Einzelheiten haben wir Gedichte.
- Ich sammle nur Aufmerksamkeiten.
- Wäre ich eine Sekunde, so gäbe es mich
- von Anfang an als Kollektion.
Kommentar von Nick Lüthi
In sich konsequent folgt die folgende Bedeutung in Clemens Umbrichts Gedicht immer aus dem vorausgegangenen Satz: In dieser Argumentskette lösen sich auch die vermeintlichen Gegensätze und metaphorischen Vermengungen in sich selbst auf. Bereits der erste Satz «Sein Lieblingswort ist das Gegenteil, / das sich im richtigen Augenblick in Luft auflöst» zieht dieses Argument auf. Das «Gegenteil» wird als Wort eingeführt, sogar als Lieblingswort. Wörtlich genommen hat damit der folgende Nebensatz keine Bedeutung mehr, die metaphysische Qualität, sich im richtigen Moment in Luft aufzulösen, kann ein Wort – auch ein Lieblingswort – nicht besitzen. Nehmen wir das Gegenteil aber wörtlich, also seiner Bedeutung entsprechend, ist der Nebensatz nur konsequent, auch wenn wir nicht wissen können, ob nun die tatsächliche Aussage, also die Luftauslösung, oder dessen Gegenteil gemeint sind. Der Titel ist also Programm: Die folgende Bedeutung lässt sich aus dem vorausgegangenen erklären, welches aber wiederum nur Bedeutung erlangt, wenn man das nachfolgende genau studiert. In dieser Wechselwirkung entfaltet das Gedicht einen wahren Strom an erstinstanzlichen Unsinnigkeiten, die sich je nach Lesart – vor- oder rückwärts – wieder anders zusammensetzen lassen. Clemens Umbricht belässt es aber nicht bei dieser bedeutungsschwangeren Spielerei, das Gedicht ist durchsetzt mit Humor und feinen Beobachtungen, die sich immer wieder durch das Spiel zwischen – um hier den guten alten Ferdinand zu bemühen – Signifikat und Signifikant auszeichnen. Und so folgt auch der multiple Hutträger einer konsequenten Logik, die uns vom Gedicht aufgezwungen wird: Um es zu verstehen Um es in seinen verschiedenen Dimensionen zu erfassen, sind wir als Leser:innen gezwungen, uns durch die erschaffenen Körper im dreidimensionalen Raum zu bewegen. Die sprachliche Finesse geht dabei aber keineswegs verloren und so ist auch das Schlusswort nicht nur in der Analyse seiner Bedeutung interessant, sondern auch in seiner sprachlichen Qualität: «Wäre ich eine Sekunde, so gäbe es mich/ von Anfang an als Kollektion.»
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
signale
- es ist als hätten mich
- die flanierenden schnecken
- geweckt sie machen heute
- den garten zu ihrem park
- tragen zur feier der taulage
- ihre fühler stolz wie kronen
- und deuten auf meine radare
- in der wahrnehmung
- der schwebenden tropfen selten
- lieber eingezogen oder rostend
- an den enden knicken sie
- gelegentlich in eine falsche richtung
- mit baumwollschonern
- gegen den verdächtigen lärm
- wenn sie sich vor lauter signalen
- um 360 drehen und zurück
- zwirbeln bis sich alles spannt
Kommentar von Nick Lüthi
Es ist ein simples, alltägliches Vorgehen, dessen Beobachtung sich Joanna Lisiaks Gedicht widmet: den Schnecken im Garten. Es bleibt aber nicht bei der Beobachtung, das lyrische Ich stellt sich selbst in Bezug zu den Schnecken; die titelgebenden «signale». Zwei Elemente heben in der Folge das Gedicht von einer simplen Naturbetrachtung ab. Einerseits durch die Sprache, andererseits durch die Technikwerdung der Natur. Lisiaks Sprache ist aufgeladen und mit feierlichem Charakter durchsetzt, so wird etwa die «taulage» gefeiert oder die Fühler werden zu «kronen». Das kleine, eigentlich unliebsame Ereignis – die alles zerfressenden Schnecken – bekommt so etwas Majestätisches und wird positiver dargestellt, als es eigentlich ist. Eng verbunden mit der sprachlichen Vermengung ist auch die implizite Technikwerdung der Tiere und dem sich dadurch entspinnenden Austausch mit dem lyrischen Ich. Erst durch die (analogen) «radare» des lyrischen Ichs wird die Kommunikation ermöglicht und die Schnecken erhalten fortan sowohl Eigenschaften der Natur als auch der Technik zugeschrieben. Die Bewegungen und Ausrichtungen auf Signale können Radargeräte und Schnecken beschreiben, rosten können Schnecken aber natürlicherweise nicht. Der «verdächtige Lärm» wiederum, weist auf die schwierige Aufgabe der Tiere hin. Das Übermass an Signalen muss bewältigt werden. Was das Gedicht nur andeutet: Dieselben Probleme stellen sich auch für das lyrische Ich.
Der abschliessende Zwirbel ist eigentlich eine Fehlzuschreibung, die Drehung um 360 Grad ermöglicht ja gerade eine Drehung ohne Spannung respektive Verzwirbelung. Im Rahmen des Gedichts, welches Elemente der Kommunikation zwischen Mensch, Natur und Technik spannt, erscheint es nur konsequent. Die Beobachtung scheint auch eine Ausflucht zu sein, der Lärm, die von überall her kommenden Signale, sie werden erst durch die Schnecken verarbeitet und erst dann auf den Menschen übertragen. Auch dies eigentlich ein Mittel der Technik: Die Übertragung von Ereignissen in Information oder anders; das Fassbarmachen von Signalen.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Streichholz
- November 1826, Stockton-on-Tees, Nordostengland,
- und John Walkers Rührstab brennt,
- er merkt es erst, als die Zeitung
- wie von selbst erzählt,
- dann das Haar des Kastorhuts
-
schon Feuer fängt.
- Man kennt es von den Katzen,
- dass sie ihre Köpfe
- an der unverputzten Hauswand reiben,
- dabei schnurren, fortan
- den Klang wie von einem aprikosengroßen
-
Drehmotor im Kehlkopf tragen.
- Doch springt vom Kopf des Tieres
- nichts wie dieses Flämmchen
- hier vom körnigen, roten Scheitel
- des Zündkopfs über
- auf die Lokalnachrichten
-
und den Biberfilz.
- Und nichts nimmt den Köpfchen ihr Verlangen
- zu entflammen im Windschatten
- einer hohlen Hand,
- Anfang oder Ende einer Geschichte zu sein,
- denkt Walker und notiert es
-
zwanzig Jahre später.
- Er notiert es an den Rand jener Zeilen,
- in denen der Schnee zwischen
- zwei Kopenhagener Häusern nicht aufhört,
- auf die abgebrannten Hölzer, auf das Haar, die nackten Füße
-
eines Mädchens zu fallen, das erfriert.
- In eine Zinndose passen hundert Stück
- zu einem Schilling und zwei Pence.
- Er vergisst sie zu patentieren.
- Die ersten Schwefelhölzer heißen
- nach einem Mr. Samuel Jones:
-
Jones’s Lucifer Matches.
- Walker wird sich eine Katze kaufen.
- Manchmal tröstet ihn
- ihr Phosphorzünglein auf der Hand.
- Im Hutdach trägt er ein gesengtes Loch,
- das bis durchs Futter geht.
- Das merkt er nur, wenn es regnet.
Kommentar von Nick Lüthi
Es ist wohl fast unmöglich, zumindest mir geht es so, ein Streichholzgedicht zu lesen, ohne an das berühmteste Streichholzgedicht der Welt,
Es ist vermutlich kein Wunder, hat der Zufall es so gewollt, dass Sascha Garzettis Gedicht als Weihnachtsgruss hier erscheint. Nebst den leisen Tönen, trägt es viele Wahrheiten in sich, die sich hinter einer zuckersüssen Wortfassade verbergen. Leise reiht es sich in eine Reihe von berühmten Texten ein, verweist mehr oder weniger direkt auf sie und muss sich vor ihnen keinesfalls verstecken.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Raumschiff
- In den frühen Morgenstunden
- sehe ich im Traum das Gedicht als
- Materie flüssig und zugleich fest
- wie Quecksilber. Wie es sich verändert
- und zugleich die Form bewahrt.
- Es ist noch dunkel Krähen hocken still
- im Gerippe der Bäume der Hund scheisst
- hinters Boot das schon seit Jahren
- am selben Fleck steht. Ich hole Brot
- später mache ich Feuer während
- es aufhört zu regnen. Du stehst
- im Türrahmen mit Motorenöl
- an den Händen. Quecksilber
- ist nur ein anderes Wort
- für den Gott des Tauschhandels.
- Florian kommt zu Besuch.
- Sein achtsamer Blick wärmt uns
- sein Verständnis für die Dinge.
- Wie wir in einem Raumschiff
- durch die Jahre gleiten ich wollte
- sie würden sichtbar ein Gemälde
- in das wir fallen Licht und Linien
- zwischen den Händen das Glimmen
- im Ofen alles zusammengeführt in
- einem Lächeln deinem verschlafenen Blick.
- Man würde auch sehen wie hell
- der Ginko leuchtet mit seinen vielen kleinen
- Blättern wie ein Angebot von morgens halb sieben
- bis abends kurz vor sechs. Unsere Tochter
- bringt den Hund zurück die Glut im Ofen
- erlöscht Kaffeeduft mischt sich in Florians Zigaretten.
- Das Öffnen und Schliessen der Zimmertüren
- in der Stille in der wir sitzen. Ich sehe
- wie etwas Zärtlichkeit von meinen Fingerspitzen
- ins Spülbecken fällt. Später
- fahren wir einkaufen über glänzende Strassen
- um uns Felder die Jahre
- eine Bewegung ins Licht als wäre sie
- niemals rückläufig
- als ginge es nur in eine Richtung
- und nie zurück.
Kommentar von Nick Lüthi
Nathalie Schmids «Raumschiff» startet mit einer poetologischen Betrachtung, die die Wirkweise des Gedichts vorgibt (und der der Text danach auch folgt). Damit platziert sich das Gedicht genau in den durch die Betrachtung aufgespannten Zwischenraum: Flüssig und fest zugleich, mäandert das Gedicht zwischen den eigenen Aggregatszuständen Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart ist bekannt und ungefährlich, steht aber auch «seit Jahren/ am selben Fleck». Die Zukunft präsentiert sich hingegen als Traumgebilde, in dem sich die Jahre im metaphorischen Raumschiff fortbewegen und zur Essenz der Gegenwart zerfallen: «alles zusammengeführt in/einem Lächeln deinem verschlafenen Blick». Die ersehnte Zukunft verlangt keinen utopischen Umsturz des Gegebenen, sondern folgt konsequenterweise aus dem Wunsch, die eingefrorene Gegenwart weiterzuleben; Gegenwärtiges in Zukünftiges zu verwandeln. Sich zähflüssig, aber stetig nach vorne zu bewegen. Beide Zustände werden mit vielen kleinen Beobachtungen umrandet, welche die innere Gespaltenheit des lyrischen Ichs offenbaren. Weder dem einen noch dem anderen Zustand möchte es sich gänzlich hingeben. Trotzdem schliesst das Gedicht mit der Feststellung, wonach Bewegung nur in «eine Richtung/ und nie zurück» möglich ist. Nathalie Schmids Gedicht ist also kein Rückläufiges, das sich unter dem Deckmantel der Poesie als ewiggestrig präsentiert, viel eher ist es an eine realistische Erwartungshaltung gekoppelt: Die konstante Fortsetzung der Gegenwart offenbart eine gewisse Verlustangst und den Wunsch nach Konservierung der Umstände. Das Gedicht verhält sich zu seinem poetologischen Prinzip genauso, wie sich die Gegenwart zur Zukunft und das feste zum flüssigen Quecksilber verhält: ein Tauschhandel ist nur möglich, wenn der eine Zustand in den anderen übergeht, das Alte dem Neuen die Hand reicht und die Erkenntnis reift, dass sich die Vergangenheit nicht konservieren lässt. Ausser natürlich, man hat ein Raumschiff zur Hand. Sei es auch nur ein in der Glut des Ofens Erträumtes.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Frosch und Meer
- Bleiblau
- webte
- das Meer
- seine gelb umrandeten
-
Morgendämmerungen
- und ein Frosch
- mit seiner dämmerungsaktiven Stimme
- ließ das metallische
- Tropfen
- seines Gequakes
-
fallen.
- Offen
- das Unendliche
- zu meiner Rechten
- links
- der mathematische Punkt
- an dem ein Grünton
- aus rostigem
- Moos
-
losbricht.
- Allein. Zerstreut.
- Ein Vorhang
- kalt
- sagte ja … und nein …
- zu Gedanken
-
auf der Flucht.
- Und eine Tasse Tee
- vor meinen Augen
- war die einzige Schlinge
- die mich
- trauriges Tier
- an meine tödliche Kette band.
Sapo y mar
- Azul plomizo
- el mar
- tejía auroras
-
amarillas en el confín.
- Y un sapo
- sobre su voz
- crepuscular, dejaba
- caer el goterón
- metálico
-
de su habla.
- Abierto
- el infinito
- a mi derecha;
- a izquierda
- el punto matemático
- rompiendo
- en un verde
- de musgos
-
oxidados.
- Sola. Dispersa.
- Una cortina
- helada
- daba el sí … no …
- del pensamiento
-
huyente.
- Y una taza de té
- frente a mis ojos
- era el único lazo
- que me unía
- animal triste
- a mi mortal cadena.
Alfonsina Storni
Alfonsina Storni (1892-1938) schrieb Lyrik, Kolumnen, Erzählungen und Theaterstücke. Eine der wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas vor 1939, die bekannteste Schweizerin, die nicht in einer Landessprache schrieb.Hildegard E. Keller
Germanistin, Hispanistin, langjährige Fernsehliteraturkritikerin (SRF, ORF), Schreibcoach und Stadtführerin («Kriminelles Zürich»). In ihrem Hannah-Arendt-Roman «Was wir scheinen», der auch im Tessin spielt, hat Alfonsina Storni als Lyrikerin einen Gastauftritt.Kommentar von Hildegard E. Keller
Alfonsina Stornis Gedicht «Sapo y mar / Frosch und Meer» sprang in allerletzter Sekunde aus ihrer Werkausgabe, die ich für die Edition Maulhelden gemacht habe. Ich hatte es bereits für den Band «Ultrafantasía. Lieblingsgedichte» übersetzt, lektoriert war es auch schon, doch die ursprünglich geplante Seitenzahl war erreicht. Es blieb kein Platz mehr.
«Ultrafantasía» ist ein erfundenes Wort, mit dem Alfonsina Storni eine Erfahrung ausdrückt: als Künstlerin bringt sie etwas in die Welt, das für sie selbst so natürlich ist wie Singen und Tanzen, für ihre Zeitgenossen aber wirkt es schräg, moralisch verwerflich und sogar bedrohlich. Ein Gedicht in diesem fünften und letzten Band der Werkausgabe erzählt davon. «Ultrafantasía» enthält handverlesene Gedichte aus allen Schaffensphasen von Storni, sieben Illustrationen (auch eine mit Frosch) und ein Nachwort. In den vorangegangenen Bänden (CHICAS, CUCA, CARDO und CIMBELINA, 2020-2021) machte ich das journalistische, narrative und dramaturgische Werk erstmals auf Deutsch zugänglich.
«Sapo y mar /Frosch und Meer» stammt von 1937 und wurde zu Lebzeiten der Autorin nicht veröffentlicht. Ein Frosch, dessen morgendlicher Ruf in der Ferne hörbar wird, wird zum Ausgangspunkt einer poetischen Welt- und Selbstreflexion. Das quakende Tier und das dichtende «traurige Tier» geben einander Echo. Das Gedicht zeigt ein Ich, das schon sehr frei zwischen Himmel und Erde schwebt. Es hat sich von dichterischen Formzwängen verabschiedet, bringt die Wörter aufs Papier, wie sie grad einfallen und überlässt sich ganz der Natur. Nah das Meer und auch der Frosch, der irgendwo quakt. Vor der eigenen Nase der Morgentee und dann, am Ende, die Erinnerung, dass es noch unter Menschen ist. Das war ein Jahr vor Alfonsina Stornis Freitod. Die aus dem Tessin stammende Argentinierin Alfonsina Storni ist eine Entdeckung wert: Ihre Persönlichkeit blieb eingefroren in einem Mythos, der das Stigma des frühen Todes von eigener Hand fortbetet, und ihr Werk ging weitgehend vergessen. Diese Werkausgabe taut die wirkliche Alfonsina Storni auf, für alle, die sie lesen und ihr facettenreiches Werk kennenlernen möchten.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
die Liebe in den Zeiten des Spätkapitalismus
I
- hast du denn jetzt einen Job?
- such dir doch bitte endlich einen Job
- du sollst dir einen Job suchen
- ja, du
- dich meine ich
- wen denn sonst?
- ohne Job brauchst du jedenfalls erst gar nicht nach Hause zu kommen
- also such dir endlich einen Job
- du sollst dir einen Job suchen,
- habe ich dir gesagt
- oder hast du schon einen Job?
- wenn du schon einen Job hast,
- dann brauchst du dir natürlich keinen Job zu suchen
- aber wenn du noch keinen Job hast,
- dann such dir bitte endlich einen
- ohne Job brauchst du jedenfalls erst gar nicht nach Hause zu kommen
- hörst du?
- komm ja nicht ohne Job nach Hause
- du sollst dir einen Job suchen,
- habe ich dir gesagt
- wenn du keinen Job hast,
- brauchst du erst gar nicht nach Hause zu kommen
- hörst du?
- komm ja nicht ohne Job nach Hause
- sonst muss ich die Sache mit uns leider beenden
- also überleg dir bitte genau,
- was du als nächstes tust
- aber ohne Job läuft zwischen uns bald schon gar nichts mehr
- also such dir endlich einen Job
- du sollst dir einen Job suchen,
- habe ich dir gesagt
- oder hast du schon einen Job?
II oder: ich liebe dich
- ich liebe dich
- aber warum liebe ich dich?
- warum liebe ich nicht jemand anderes?
- und warum liebe ich überhaupt?
- warum hasse ich nicht?
- und warum hasse ich nicht dich?
- warum liebe ich dich?
- und warum liebst du mich nicht?
- warum wirst du von mir geliebt?
- und warum liebt dich nicht jemand anderes?
- warum lässt du dich von mir lieben?
- und warum tust du nichts dagegen?
- warum hasst du mich nicht?
- und warum hasst du generell niemanden?
- warum liebe ich dich?
- und warum liebe ich mich nicht?
- ich liebe dich
- aber warum liebe ich dich?
III oder: letzte Erledigungen vor dem Untergang
- im Garten arbeiten
- online sein
- shoppen
- vor dem Fernseher sitzen
- Rätsel lösen
- Bücher lesen
- essen gehen
- Computerspiele spielen
- Musik hören
- heimwerken
- ins Fitnessstudio gehen
- Filme schauen
- wandern gehen
- joggen
- Gesellschaftsspiele spielen
- in die Sauna gehen
- basteln oder töpfern
- Clubs besuchen
- schwimmen gehen
- Mountainbike fahren
- Fußball spielen
- Yoga machen
- Rennrad fahren
- campen
- Tennis spielen
- Freizeitparks besuchen
- Fotos und Videos machen
- reiten
- Roller- oder Inlineskates fahren
- auf Skiern unterwegs sein
- angeln gehen
- bergsteigen
- schreiben
- spazieren gehen
Kommentar von Nick Lüthi
Clemens Schittko stellt die Liebe in den Mittelpunkt seines Texts. Nicht aber ohne ironischen Unterton, der gut zur zeitlichen Einreihung in den Spätkapitalismus passt. In der unverkennbaren Art seiner Gedichte, lässt Schittko danach ein Paar, oder genauer einen Teil eines Paares, nach dem Job des Anderen fragen. Nur der Job, so scheint es, macht den anderen zu einem zuverlässigen Teil der Partnerschaft, der nicht sofort verlassen werden muss. Augenfällig, dass das Wort «Liebe» in diesem Monolog kein einziges Mal fällt. Insofern erstaunt es nicht, wird die Liebe im zweiten Teil des Texts in all ihren Facetten hinterfragt. Es wird aber nicht klar, wer genau hier – auch wieder in Monologform – nach der Liebe fragt, der vorhin stille Teil, oder der nachfragende Teil. Es ist auch gar nicht so wichtig, wer nun nach Job oder Liebe fragt, stellen die Fragen doch nur die offensichtliche Position der Liebe in den Mittelpunkt. Liebe allein reicht im ersten Teil nicht mehr für eine Paarbeziehung und im zweiten Teil wird die Liebenswürdigkeit der befragten Person komplett infrage gestellt. Liebe als gerichtetes, personales Gefühl wird damit komplett untergraben. Es erscheint fast zynisch, dass die aufgeführten Tätigkeiten für den Untergang im dritten Teil alle gemeinsam gemacht werden können, aber nur in Einzelfällen gemeinsam gemacht werden müssen. Es ist nur passend, wirkt die Liste in ihrer Aneinanderreihung beliebig. Der Zynismus des Spätkapitalismus für zwischenmenschliche Sentimentalitäten wird damit genauso ausgedrückt (und ironisiert), wie die Liebe des Internets für Listen, egal, welche Wahllosigkeit sich dahinter verbirgt. Oder wie viele lieblos zusammengestellte Listen mit Weihnachtsgeschenksideen sind Ihnen in den vergangenen Tagen und Wochen begegnet? Was «die Liebe in den Zeiten des Spätkapitalismus» nun genau ausmacht, bleibt uns das Gedicht von Clemens Schittko schuldig. Also müssen wir uns die Frage selbst stellen: Was heisst es denn für uns, zu lieben, geliebt zu werden in den Zeiten des Spätkapitalismus?
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
vademecum
- trink vom tau
- der auf traubenblau
- glitzert
- hör was der schwere
- brokat erzählt
- lies die lautlosen silben
- von den schimmernden
- muschelrändern
- riech den duft der lilie
- und nimm den toten
- vogel in die hand
- dann leg alles zurück
- ins bild, erst jetzt
- geh weiter
Kommentar von Nick Lüthi
Ratgeberliteratur hat ja (berechtigterweise) nicht unbedingt den besten Ruf, was aber, wenn sie in Gedichtform vorgetragen wird? Katharina Lanfranconis Vademecum ist kurz, gerade einmal sieben Ratschläge sind darin enthalten. Die ersten fünf rufen zum Sammeln auf, die letzten zwei beschreiben, wie mit dem gesammelten Gut umgegangen werden soll: unberührt soll die Welt zurückgelassen werden. Berührt wird nur die Sammlerin von den Eindrücken, die sie in der Zwischenzeit, nach Anleitung, angehäuft hat. Lanfranconis Gedicht ruft zum Verweilen auf, zum genauen, stillen Beobachten und zum Aufnehmen der Wunder, die die Umwelt nur bei genauer Beobachtung freilegt. Der tote Vogel ist dabei die verdächtigste Aufforderung, er steht bereits still und wird erst durch die Beobachterin wieder in Bewegung gebracht. Stillstand und Bewegung – die zentralen Muster des Gedichts stehen sich da am nächsten.
Mit dieser Dynamik positioniert sich das Gedicht auch selbst: Auf den ersten Blick kann es als verhältnismässig harmloses Naturgedicht gelesen werden, auf den zweiten offenbart die Dynamik das Wirken des Menschen. Zwar ist der Mensch hier hauptsächlich in einer Beobachterrolle, trotzdem ist er es, der die Natur in Bewegung versetzt und erst am Schluss alles wieder an seinen angestammten Platz legt. Und in dieser umgedeuteten Rolle des Menschen findet sich der Unterschied zu einem harmlosen Naturgedicht: Der Mensch ist ja bekannt dafür, die Natur sowohl in Bewegung zu versetzten, als sie auch verändert zurückzulassen. Eben nicht nur zu beobachten, sondern sie als Mittel zum Zweck zu nutzen. Die Natur ist uns kein Bild, welches wir bewundernd betrachten, sondern ein endlicher Quellbrunnen unserer Gier, den wir mit Eimern und Schöpfkellen ausheben, bis er versiegt. Katharina Lanfranconis Ratgebergedicht bezieht dazu leise aber dezidiert Stellung; nicht mit normativem Charakter, dafür mit Vorbildfunktion. Wenn man so will: Es steht in einer tugendethischen, nicht in einer deontologischen Tradition. Dass das ursprüngliche Verständnis von «vade mecum!» («geh mit mir!») dabei auch mitschwingt, ist nur ein weiteres Indiz für die im Gedicht angelegten Tugenden.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Erste Tropfen
- Erste Tropfen: Dodola
- melkt ihre himmlischen Kühe
- Stratus Altostratus ihre prallen Bäuche
- die dräuenden Euter. Dodola legt sich
- ins Zeug zieht die Zitzen lang: Regen
- prasselt strömt ergiesst sich in Bächen
- Der Verkehr stockt Sirenen Blaulicht
- eine Windhose über dem See oj oj dodo
- genug jetzt zieh ab mit deiner Herde
- Dodole!
Kommentar von Nick Lüthi
Ein Frühlings-, ein Sommergedicht gar: Dodola (je nach Land/Region auch Perperuna) ist eine Tradition heidnischen Ursprungs aus dem südosteuropäischen Raum. Traditionellerweise wurden im Frühjahr oder bei grossen Dürren Regentänze aufgeführt, damit die Göttin Dodola das Land mit Regen segnen möge. Verbunden wird Dodola (die Tradition) mit dem Göttervater Perun (lies: slawischer Zeus) oder eben seiner Frau, Dodola.
Oft frage ich mich ja, woher die Gedichte kommen, die dieses Magazin erreichen und was die Gedichte verbindet. Im Spätjahr 2022 finden sich viele Gedichte, die sich mit Krieg, Krisen, der Umwelt poetisch auseinandersetzen. Oft endet diese Auseinandersetzung pessimistisch, oder sagen wir: unaufgelöst. Monika Schnyders Gedicht scheint da eine Gegenthese zu vertreten, es wirkt fröhlich, Göttin Dodola taucht auf, melkt ihre Kühe und zieht wieder von dannen. Gekonnt erscheinen im Gedicht die verschiedenen Namen Dodolas, werden traditionelle Gesänge aus dem Serbischen zitiert («oj oj dodo») und am Schluss wird die lautmalerische Qualität des Namens zum Befehl «Dodole!» hervorgehoben. Alles harmonisch. Kurzer Regenschauer und weiter gehts. Gut, machen es einem Gedichte, und hier speziell Monika Schnyders Gedicht, nicht so einfach. Unterkomplexität kann man ihnen selten vorwerfen. So auch hier: Warum werden die Gesänge eines im 21. Jahrhundert längst nicht mehr praktizierten Gebrauchtums bemüht? Gab es eine Dürre (eine Frage, die man im Jahr 2022 gar nicht mehr beantworten muss)? Oder andere Zeichen, die nach Dodola verlangten? Liest man genauer, verschwindet plötzlich auch die Harmonie: Warum stockt der Verkehr? Warum Sirenen, Blaulicht? Warum muss Dodola, kaum hat man sie hergebeten, auch schon wieder weggescheucht werden?
Also doch kein Sommergedicht? Doch keine harmonische Betrachtung der Welt? Oder um ein ausgelutschtes Sprachbild zu bemühen: Es brodelt unter der Oberfläche. Also auch keine Auflösung, keine Harmonie. Es tropft, mit unklarem Ausgang. Und trotz der vielen Fragen: Die Frage, weshalb diese Gedichte das Magazin erreichen, sie stellt sich mir nie. Weil jedes Gedicht, die Antwort darauf selbst gibt. Warum also Regentänze Ende November? Dodole!
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
ich hab dir nichts versprochen
- nur ein paar schritte
- durchs fegefeuer
-
kalt hatten wir nie
- nur eine hand voll
- schnee im licht
-
wir tranken das wasser
- nur eine amsel
- gesang vom baum
-
wir entwurzelten ihn
- das feuer brannte
- fegte über die worte
-
funken streunten durch die asche
- unsere augen tränten im rauch
Kommentar von Nick Lüthi
Ein nie gegebenes Versprechen steht ganz zu Beginn von Lisa Elsässers Gedicht. Die Angesprochenen bleiben aber während des ganzen Gedichts stumm, es bleibt deshalb im Dunklen, warum das lyrische Ich diese Rechtfertigung überhaupt formuliert. Der Wunsch nichts versprochen haben zu wollen, erscheint aber konsequent in der Welt, die das Gedicht danach zeichnet. Der Gang durchs Fegefeuer ist kein gemütlicher. Zwar muss man die Kälte nicht mehr fürchten und auch Wasser hat es dank des geschmolzenen Schnees genug, trotzdem tränen die Augen im Rauch und löschen die Worte aus. Es wird zwar nie direkt gesagt, aber es ist eine Welt, in der man nicht mehr leben will. Wer Auslöser dieser Hölle auf Erden ist, erfahren wir nicht (von religiösen Tradierungen abgesehen), aber doch scheint das Fegefeuer von uns entfacht worden zu sein. Zumindest haben «wir» die Bäume entwurzelt, die dem Fegefeuer als Zunder dienen könnten. Das Gedicht liefert weitere Anhaltspunkte, die für einen Indizienprozess geltend gemacht werden können: Die ersten drei Strophen sind durch das einleitende «nur» geeint, damit andeutend, dass keine Absicht vorherrschte, oder zumindest keine, die alle Konsequenzen berücksichtigt hätte. Es waren «nur ein paar schritte», «nur eine hand voll», «nur eine amsel», die schlussendlich ins Verderben geführt haben.
Lisa Elsässers Gedicht lebt von diesem geschaffenen Zwischenraum, der zwischen Eindeutigkeit und Andeutung oszilliert. Zwar scheint es eindeutig, dass es im Gedicht auch um den menschengemachten Klimawandel geht, aber nie explizit, sondern nur an den Indizien entlanggehangelt. Stark wird das Gedicht aber nicht, weil es seine Kritik nicht in aller Explizitheit formuliert, sondern weil es ein grosses Thema auf eine persönliche Ebene herunterbricht. Wir wissen zwar wenig über die beiden Personen, über das angesprochene Du, das sprechende lyrische Ich, die Wir-Konstellation, aber wir merken, dass die Begegnung eine persönliche ist. Anders kann ein Versprechen gar nicht funktionieren. Das Gedicht verschiebt seinen globalen Blick aufs Lokale, damit wird auch das einleitende «nur» zweideutig, weil es auf der persönlichen Ebene immer nur den Einzelfall, immer nur die Inzidenz, ein «nur» geben kann. Jede*r muss für sich aus den gesammelten (erlebten) Indizien die notwendigen Schlüsse ziehen, gerade dann, wenn kein Versprechen vorliegt.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
für fm, wien,
10.09.2022,
28.01.2022,
26.10.2021
«Ornithologie»
- aus dem
-
gumpendorfhinterhof
- poetischsprachkunst
- may i kiss your klit
- c. gewidmet
- krähe türkentaube
- kohlmeise turmfalke
- stieglitz sperling
- buntspecht zaunkönig
- grünfink grasmücke
- rotkehlchen
- mauersegler
- reiher enten möwen
- stadttaube käuzchen
- nachtigall amsel
- & rotschwänzchen
«habe mich in die NATUR verknallt,
habe mich in die KUNST verknallt»
- offenweisze lilienblüten
- dein foto im kranichauffliegen
- vulvablut gefrornes taut in bildern
- exposed to each other
- in you
- in love with you
- you precious kind creature
- me precious kind creature
- let’s fall in love
«ich schmeckte diese Erfüllung
von Sprache»
I
- das lieben & leben des poetischseins
- souvenance de anouar brahem
- thank you for peace
- tanzen wesen
- tanzen wesen
- oh we are alivecats
- im schmiegen
- fürs sein
- thank you for all presence
- danke lau & soulfriends
- danke für frieden danke für
- freudvollmiteinandertanzen
- i love you kindcreatures
- let’s dance the universe alive
- let’s dance freedom
- let’s dance souvenance
II
- und ich weinte und weinte
- dich friederike nicht mehr
- «ich schmecke diese
- Erfüllung von Sprache»
- und ich weine
- unsere kostbaren augenblicke
- die poetischen umarmungen
- miss you always
- miss you always
-
with every poem i write
- Alle Zitate entnommen aus Friederike Mayröcker: «da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete.» (2020, Suhrkamp).
Kommentar von Nick Lüthi
Friederike Mayröcker stirbt am 4. Juni 2021. Das erste der drei Gedichte von Marion Steinfellner entsteht gute vier Monate später, fürs zweite vergehen wieder vier Monate und schlussendlich weitere acht bis zum Dritten. Die Trauer über den Verlust der lieben Freundin verändert sich in diesen Zwischenzeiten unbeobachtet. Wir bekommen nur drei Ausschnitte mitgegeben, drei Versuche, der eigenen Poesie und der eigenen Trauer genauso gerecht zu werden, wie der Poesie von Friederike Mayröcker. Alle drei Gedichte fussen auf Lektüren von Mayröckers letztem Band «da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete.». Angeführt von Zitaten aus dem Band vermengt Steinfellner Eindrücke, Erinnerungen, Sprachen, Farben, bis daraus keine Gedichte, sondern poetische Wesen mit unmittelbarer Kraft entstehen.
Natürlich, man könnte diesen Gedichten jetzt auf herkömmliche Weise begegnen, die Sprachbilder hervorheben, über die metaphorische Verbindung von «lilienblüten» und «vulvablut» sinnieren, aber es scheint mir ein müssiges Unterfangen. Das liegt daran, dass es mir bei der Lektüre dieser drei Gedichte nicht danach dürstet, sie auf ihre poetische Wirksamkeit zu untersuchen, sondern sie als das zu nehmen, als was ich sie empfinde: als poetische Einladungen, als poetische Geschenke. Marion Steinfellner nimmt uns mit, lässt uns teilhaben an ihrem Schmerz, ihrer Trauer, aber vor allem: an ihrer Liebe. Ich wüsste nicht, was ich mir mehr von einem Gedicht wünschen könnte. Nehmen Sie, liebe Leser:innen, also die in diesen Gedichten verpackte Einladung an, nehmen Sie sich Zeit für den Schmerz, die Trauer, die Liebe, all diese grossen Worte und Gefühle, die uns irgendwann zur Poesie verführt haben und an denen uns Marion Steinfellner mit ihren poetischen Wesen teilhaben lässt.
Genauso wie ich mich in diesem Kommentar geweigert habe über poetische Wirkweisen zu schreiben, scheint es mir falsch, diesen Kommentar mit eigenen Worten abzuschliessen. Stattdessen überlasse ich lieber Marion Steinfellner das Wort, mit einem Text, der mich unverhofft an einem regnerischen Oktobertag kurz vor Mitternacht per E-Mail (Betreff: «text») erreicht hat:
liebste friederike,
war moosgrün gewesen
tour retour
durch mich dich hindurch
durch dich hindurch
poetische wesen
in lovemoments
gefunden
anfangsgallopierendgeschenk
wort wörter
que estoy amor enamorada
fritzi ist leibhaftig tot
sie geht nicht mehr ans telefon
anrufung frühlng
die mauersegler sind da
erfreuend insprierend füreinander
du schreibst mich
ich schreib dich
schreib weiter sagst du
experimentier weiter
mutigsein ein freundliches wort
danke
für schreibglücksüberraschungen
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
später
- Etwas geht etwas voraus, wenn eine Tür ins Schloss knallt, wenn der Apfel aus der Hand unter den Stuhl rollt. Ob heftiger Wind im Spiel war oder Zorn. Er oder Sie oder Es kann bange werden. Er oder Sie oder Es kann aufbegehren. Ich will guten Morgen sagen, die Hand reichen. Ich will den Blumen frisches Wasser geben. Den Schatten sehen. Ein Mann, der eine Frau ist, hat anderes im Sinn. Sie duckt sich hinter den Wartenden am Fußgängerstreifen und überquert grußlos die Straße. Eine spätere Begegnung bringt dich zu betagten Sätzen. Es gibt die langsame Zeit, sage ich. Du greifst mit der Hand über die Stirn ins dünn gewordene Haar.
eins
-
viele Dinge im großen Glas
-
fingerstelzen, es klirrt
-
In der Büchse liegen Kekse. Der dampfende Kaffee überdeckt deren süßen Duft. Ich erschrecke über meinen zufälligen Blick in den Spiegel, über die erdwärts geneigten Mundwinkel. Wenn Konkaves Bedrängtes meint, sagst du. Niemand weiss Genaueres. Man könnte zuversichtlich sein, obwohl viele auf Widerruf vor ihren Bildschirmen sitzen. Einer hat im Glücksspiel gewonnen. Viel ist es nicht, sagst du. Trotzdem wunderst du dich über Unerwartetes, das dir jeden Tag über den Weg läuft. Ich wundere mich über die Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen, sage ich.
zwei
-
ein Lippenstift, ein runder Klappspiegel
-
rubinrot geküsst
-
Es gibt träumen am helllichten Tag. Wenn man liebt, ist alles von Bedeutung. Die Furcht, etwas zu zerstören, was unvergleichlich ist, auch wenn sie nur im Kopf aufscheint, kann den Tag verdunkeln. Kofferzustand. Sie hat mir einen Kuss gegeben, sagst du. Ich interessiere mich für Nebensächliches. Verdachter Reiz. Im winzigen Haus am See stehen die gestapelten Stühle neben dem Klapptisch und dem gefalteten Sonnenschirm. In den Ästen der Buchen schwarzweißes Krächzen, als wäre Empörung im Spiel. Auf der Landstraße die vorbeifahrenden Autos. Was alles überrollt wird, sage ich.
drei
-
eine kleine Flasche mit Zerstäuber
-
auf die Haut gezischt
Kommentar von Nick Lüthi
Wie so oft bei ihren Texten, entzieht sich auch «später» von Li Mollet der Eindeutigkeit. Zuerst ist da vor allem Sprache, durch die man sich bewegt, bewegen muss und in der man nach Halt sucht. Und zuerst steht ganz bewusst Verwunderung, wenn man mit einem so wuchtigen ersten Satz in den Text geworfen wird: «Etwas geht etwas voraus, wenn eine Tür ins Schloss knallt, wenn der Apfel aus der Hand unter den Stuhl rollt.» Wir wissen da zumindest, dass entweder etwas zeitlich vorgängig passiert ist, oder aber, dass etwas metaphorisch bereits den Raum verlässt, bevor man die Türe wütend in Schloss knallen lässt. Nur nicht was. Ein Anhaltspunkt findet sich später, wenn das lyrische Ich bemerkt: «Ich wundere mich über die Verhältnisse zwischen Menschen und Dingen». Ja, wer denn nicht?! Aber spezifisch in Mollets Text taucht diese Frage konstant auf, sei es nun zwischen dem Apfel und den beiden Menschen, der knallenden Türe und dem vorausgehenden Etwas oder den Kofferzuständen in den Köpfen der Menschen. Damit ist noch nicht viel gesagt über Li Mollets Text, aber ich wundere mich (frei von sprachlicher Koketterie), ob das überhaupt nötig ist, viel über diesen Text zu sagen, sagen zu müssen. Der Text bewegt sich doch in sich selbst fort und erzählt uns zwar wenig über sich, aber doch genug, damit wir uns selbst darin orientieren können. Es geht um Menschen und Gegenstände und um deren Verhältnisse und dazwischen, aber halt nur leise angelegt, auch um die Verhältnisse der Menschen zueinander. Im besten Sinne des Wortes bleibt Mollets Text mysteriös, weil er sich selbst nur zeitweilig offenbart, gleichzeitig aber genug Zauber versprüht, dass man ihm folgen will und mit diesem Sprachspaziergänger:innentext mitgehen will, trotz offenem, unklarem Ende. Es scheint von daher nur passend, ist der Text ein Auszug eines gleichnamigen Bandes, der bald erscheinen wird. Als Leser:in kommt man unweigerlich ans Ende dieses Textes, weiss und merkt aber auch, dass es damit noch nicht getan ist und wartet auf eine Weiterführung mit einem undefinierbaren Gefühl im Magen, fast so, «als wäre Empörung im Spiel».
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Mitten im Bewerbungsgespräch
- rutschte ich zur Seite
- und hielt das Leben mit einem Bleistift an
- halbem Sandwich, dampfendem Kaffee
- mit dem Lärm vorbeifahrender Autos
- im Turm zu Babel, da hinauf nur
- ein paar Stufen noch, dann
- werde ich niemals allein
- sein, sondern leben
- auf einem Blatt
- Pa
- pi
- er
בְּרֶגַע אֶמְצַע רֵאָיוֹן עֲבוֹדָה, אֲנִי זַזְתִּי הַצִּדָּה
- וְעָצַרְתִּי אֶת הַחַיִּים עִם עִפָּרוֹן
- חֵצִי סֶנְדְּוִיץ’ וְקָפֶה מַהְבִּיל
- רְעָשִׁים שֶׁל מְכוֹנוֹת,
- מִגְדַּל בָּבֶל, חֶדֶר
- מַדְרֵגוֹת וַאֲנִי
- אַף פַּעַם לֹא
- לְבַד, חַי
- עַל הַ
- דַּף
Mati Shemoelof
Arabisch-jüdischer Autor aus Haifa in Israel, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, die meisten davon Gedichtbände, aber auch Prosa und Essays. Zuletzt auf Deutsch: «Baghdad. Haifa. Berlin.» (2019, Aphorisma, Übers. Jan Kühne).Jan Kühne
geb. 1978 in Dresden, Studium in Heidelberg, Wien und Jerusalem, wo er seit 2005 lebt. Forscht zu simultaner Mehrsprachigkeit am Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum für Deutsch-Jüdische Literatur und Kulturgeschichte der Hebräischen Universität, an der er auch unterrichtet. Zuletzt «Die zionistische Komödie im Drama Sammy Gronemanns» (2020, De Gruyter).Kommentar von Nick Lüthi
«Mitten im Bewerbungsgespräch» ist ein eher unauffälliges Gedicht in Mati Shemoelofs Œuvre, es ist kein politisches Gedicht und beschäftigt sich auch nicht mit den sonst so augenfälligen Themen im Werk wie Herkunft und Identität. Aber wie so oft bei Gedichten zeigt sich seine wahre Dimension erst beim zweiten, dritten, vierten Lesen. Die harmlose Träumerei einer Bewerber:in beim Bewerbungsgespräch wird dann zur Verhandlung von Literatur und Realität und vielleicht zur Daseinsberechtigung. Erst auf dem Blatt Papier spricht sich nämlich das lyrische Ich Lebendigkeit zu. Diese Lebendigkeit auf Papier dient denn auch der Überwindung der Einsamkeit. Eindeutig zu grosse Themen für eine harmlose Träumerei während eines Bewerbungsgesprächs.
Das geschriebene Wort, oder genauer: das mit Bleistift auf einem Blatt Papier festgehaltene Wort, wird in Mati Shemoelofs Gedicht also überhöht und mit beinahe magischen Fähigkeiten ausgestattet. Wichtiger als diese Funktion sind aber die Fragen, die sich durch diese Überhöhung stellen: Warum ist das lyrische Ich einsam? Was macht das lyrische Ich überhaupt an einem Bewerbungsgespräch? Stehen Einsamkeit und das Gefühl der eigenen Unlebendigkeit durch den Kontext des Bewerbungsgesprächs zusammen oder ist dieses nur Auslöser für die Träumerei? Wie ist das Bild des Turms von Babel zu verstehen? Das Gedicht beantwortet diese Fragen nicht, es wirft sie nur auf. Und genau darin finden sich dann auch die Dimensionen, die sich im ersten Lesedurchgang noch versteckt hielten. Man wird plötzlich unsicher, ob das Gedicht nicht auch eine politische Dimension hat, nicht doch auch Herkunft und Identität verhandelt.
Im hebräischen Original ist das «Gespräch» vor über zwanzig Jahren erschienen, von seiner Frische hat es aber wenig verloren, was auch an Jan Kühnes Übersetzung liegt. Kühne setzt das Gedicht im Deutschen in einen einzigen, verschachtelten Satz, der, noch stärker als das Original, mit den ersten und letzten Zeilen («rutschte ich zur Seite» und «Pa/pi/er») den Inhalt auch typografisch unterstreicht. Es erscheint nur konsequent, dass das «Gespräch» wenige Antworten liefert, es spielt ja selbst auf diese Dimension der Literatur an. Abschliessend bleibt uns Leser:innen also nur die Frage, auf welcher Stufe des Turms wir unsere eigenen Fragen, oder allenfalls Antworten darauf, finden (wollen).
PS. Ein grosser Dank sei hier auch noch an den Schriftgestalter Christoph Koeberlin ausgesprochen, dessen Schrift Pangea hier auf der ganzen Seite Verwendung findet. Er hat uns mit einer Beta-Version der hebräischen Variante von Pangea versorgt, damit das Original des Gedichts typografisch genauso gut zur Geltung kommt, wie alle anderen Texte auf poesie.xyz.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
die Gehirnerschütterung
- der Mann schaute nicht einmal auf schlug nur zu
- er zielte nicht das war nicht nötig ich war da drinnen
- nun Schleier und Blut 1 Gehirnerschütterung Kirschblüten unter
- der Kopfhaut warme Knospen wie Augen die aufklappten beim Aufprall
- die flüssigen Herzen zerreiben am Knochen es wird schwer ich bin weg
- aus der Blutlache rette ich einen Gedanken nur : er zielt nicht denn das ist
- nicht nötig ich bin da unten mein Mund mit Blut er löst sich wie eine Frucht
- und er platzt das stört mich die Sätze fallen Rippen Zähne das ist nötig so oder so
- und nun kommt ein Bekenntnis mein Gott ich lege es zwischen die Lippen wie man
- eine Rose in ein offenes Grab sinken lässt trage es in der dunklen Erde es liegt mitten in
- meinem Gesicht : dort heisst es : dieser Mann hier ja er tritt mich und ich gehe nicht –
Kommentar von Nick Lüthi
Ein Titel, so lapidar wie ein medizinischer Befund. Ein Befund aber, der nur durch massive Gewalteinwirkung zustande kommen kann, so massive Gewalt, dass das Hirn direkt an die Schädeldecke stösst. Jetzt sagt der Befund respektive der Titel selbst aber noch nichts darüber aus, wie es zu dieser Gewalteinwirkung gekommen ist. Die Geschichte dazu liefert Eva-Maria Dütschs Gedicht nach: Es ist ein Akt häuslicher Gewalt. «der Mann» ist in seiner Gewaltanwendung so stupide, er muss nicht einmal zielen, sprich- wie wortwörtlich trifft er von oben herab sein Opfer sowieso. Diese Feststellung des Nichtzielens ist der einzige klare Gedanke, der sich im Gehirn des lyrischen Ichs noch fassen lässt. Dementsprechend wird er auch zweimal formuliert, zuerst als Erkenntnis, danach als Faktum der Beziehung zwischen Mann und lyrischem Ich. Das lyrische Ich ist denn auch so von der Situation gezeichnet, dass es im sich entfaltenden Gedankenstrom zum Schluss kommt, dass die Situation genauso unausweichlich ist, wie die durch die Gewalt herbeigeführten Wunden.
In gewisser Weise könnte man Eva-Maria Dütschs Gedicht vorwerfen, dass es eine Gewalterfahrung ästhetisiert. Die Gewalt mit Bildern von «Kirschblüten» oder «warme[n] Knospen» untermalt und aus dieser Situation einen poetischen Text formt. Es wäre nicht nur ein unfairer Vorwurf, es wäre auch einer, der aus einer ungenauen Lesart erwächst. Das Gedicht ist in seiner Perspektive konsequent, es wird nur aus Sicht des lyrischen Ichs erzählt. Die Bilder und Metaphern sind denn auch keine Ästhetisierungen, sondern die ersten und direktesten Assoziationen, die im Gehirn des lyrischen Ich innerhalb dieser Situation häuslicher Gewalt entstehen. Eva-Maria Dütsch erzählt diese Geschichte furios und schliesst sie mit einem Bekenntnis ab, das im Rahmen des Gedankenstroms nur konsequent erscheint; gehen ist keine Option und die eigens empfundene Schwäche ist nun für alle – direkt im eigenen Gesicht – sichtbar. Konsequenterweise liefert das Gedicht keine Auflösung, aber es legt sie im abschliessenden Perspektivenwechsel an: Das lyrische Ich anerkennt da zum ersten Mal die Umwelt, die Anderen und dass sich Befund und Geschichte untrennbar miteinander verbunden haben.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
von ribbentrop meldet sich: warum immer die deutschen!? den schuh will ich mir nicht anziehen!
- von ribbentrop sitzt in der ersten reihe, meine lesung ist grad vorbei
- er hat einen safarihut auf und gestopfte pfeife schon im mund:
- ich will mir den schuh nicht anziehen grah grah räusperräusper graaah
- mit tränen in augen vor wut: schlechter text von breyger! schlechter text!
- die italiener sind AUCH schlimm, die franzosen sind AUCH schlimm, die
- timbuktaner, tibetaner, mandariner, apfelsiner, die aliens sind AUCH schlimm
-
usw
- ich habe 2 kinder, ihr riskiert einen atomkrieg, wer denkt an meine kinder
- (witzig, weils im text u.a. darum ging, dass die deutschen friedensengel
- deutsche leben den ausländischen vorziehen)
- als vatergefühle verständlich, nicht böse also, nur ziemlich kurz gedacht
- weils ja die selben eignen kinder dran sind, nachdem russland
- seinen krieg in der ukraine gewonnen hat und mitm baltikum fertig ist
- keine waffen an die ukraine graaah grah, putin könnte das werten
- als kriegseintritt! (weil er mit seinem gesetzbuch dasitzt
- und zehn beratern und die bei tasse tee gemeinsam rechtlich deuten
-
was kriegseintritt ist und was nicht)
- von ribbentrop schreit und tobt, diskussion im publikum
- gefällt mir zuerst, macht spaß, bald dann nicht mehr
- ich schaffe es, ruhig zu bleiben, obwohl ich innerlich heule
- gefühl, als würden die organe nacheinander implodieren
- gewicht, dass in den körper zieht, von unten nach oben
- nach der lesung sag ich ihm: egal, was du erzählst, ich mag dich trotzdem
- und da sind wir beide erleichtert
- ich würd sagen, man mag sagen, was man will, aber bei ihm denk ich:
- integrer mensch
- hat durchaus seine themen, aber integrer mensch
-
und darauf kommt es am ende an
- abends sitz ich im restaurant und sprech ein wenig russisch
- da fällt mir ein, 2 sprachen sprech ich jetzt
- deutsch, russisch
- einmal die, die meine leute massengemordet
- einmal die, die in deren fußstapfen treten wollen und meine andren leute
- umbringen
Kommentar von Nick Lüthi
Die erste, historische Assoziation, die man bei der Lektüre von Yevgeniy Breygers Gedicht macht, stellt sich spätestens in der zweiten Strophe als falsch heraus; der Antagonist von Ribbentrop ist nicht der NSDAP-Kriegsverbrecher, den man mit dem Namen verbindet, der hatte fünf Kinder, nicht deren zwei. Das Gespräch, oder der Kampf zwischen zwei Welten, hier verkörpert durch das lyrische Ich und von Ribbentrop, ist damit ein dezidiert zeitgenössischer, der aber immer wieder historisch kontextualisiert wird, beispielsweise durch die Friedensengel.
Die beiden Gesprächsteilnehmer begegnen sich auf unterschiedliche Weise, von Ribbentrop bereits fest in der Opferrolle und in der Argumentation getrieben von egoistischer Angst, das lyrische Ich mit erstaunlich viel Verständnis, welches erst ganz am Schluss aufbröckelt. Angetrieben wird das Gespräch ausschliesslich von von Ribbentrop, das lyrische Ich entfernt seine Position aus der fiktionalen Gesprächssituation und zieht sie in das Gedicht. Das Geschrei des von Ribbentrop entbehrt der gewünschten Bierernstigkeit, weil Breygers Gedicht das Geschrei jeweils zu Situationskomik verkommen oder mit ironischer Zuspitzung in Klammer zuwiderlaufen lässt. Im Gespräch findet keine Synthese statt, es löst sich nicht auf, weil keine Argumente ausgetauscht werden. Die gesittete Auflösung der Anspannung gelingt nur, weil das lyrische Ich von Ribbentrop Integrität zuspricht.
Yevgeniy Breygers Gedicht ist genauso leise, wie es laut ist. Zwischen dem lauten von Ribbentrop und dem analytisch scharfen (leisen) lyrischen Ich wird nicht verhandelt und trotzdem verlassen sich die beiden Seiten friedlich. Am stärksten hallt dann auch die leise Schlussstrophe nach, die einzig Feststellungen macht, ohne diese Fakten direkt zu bewerten. Damit bringen die letzten Zeilen auf den Punkt, was ein von Ribbentrop nicht begriffen hat: für die meisten Menschen besteht niemals die Möglichkeit auszuwählen, welche Schuhe man sich anziehen will.
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Wie im Traum
- Zapfen von Blut (Seelen gekritzelt
- Auf Nadeln): Schicksale & Opfer-
- Büchsen aus Lagern & Zelten (Zellen)
- Von Gewissenlosen mit gewaltigen
- Schuhen über die Grenze getreten und
- Ins Gesicht.
Kommentar von Nick Lüthi
In einem einzigen Satz formuliert Petra Ganglbauers Gedicht eine Realität, die den im Titel stehenden Traum aller Grundlage entbehrt. Oder auch: Die Wirklichkeit erscheint so verzerrt, dass der vermeintliche Traum in den Raum des Hyperrealen, also in einen Raum, in dem die Realität kaum zu glauben ist, geholt wird. Dieses Furiosum zwischen Traum und Wirklichkeit bezieht seine Schlagkraft aus den fein gearbeiteten sprachlichen Doppelbödigkeiten. Die «gewaltigen Schuhe» sind sowohl sinnbildlich als Ausdruck eines überdimensionierten Gegners zu verstehen, als auch wortwörtlich als an den Füssen getragenes Material von Gewaltantuenden. Auch die «Zapfen von Blut» können wörtlich aufgefasst werden, als in Zapfen herabfallendes Blut. Als Kompositum «Blutzapfe» offenbart der Gedichteinstieg eine weitere Bedeutung, wie der Blick ins Frühneuhochdeutsche Wörterbuch zeigt; als Synonym für einen blutgierigen Menschen, Tyrannen. Die Metaphorik des Zapfens, jetzt als Tannenzapfen, wird im Gedicht durch das später aufgeworfene Bild der Nadeln weitergeführt. Auch die «Opfer-Büchsen» oder die gewaltsame Verteidigung von Grenzen, zeigen weitere Doppelbödigkeiten.
Ein Gedicht, das «Wie im Traum» heisst, muss mit der Realität genauso spielen, wie es sich ihr nicht vollständig offenbaren darf. Wer träumt, verzerrt die Realität durch die eigenen Augen (womit wir wieder bei den Zapfen wären) und die mächtigsten Träumer gestalten sich darin die Wirklichkeit nach eigenem Ermessen. Und wenn uns die Wirklichkeit wie im Traum erscheint, stellt sich die Frage, ob hier jemand die Wirklichkeit nach einem Gutdünken gestaltet und zurechtzurrt, oder ob wir nicht doch träumen. Das «Wie» offenbart dabei aber leider, dass Letzteres eher nicht der Fall sein dürfte und sich die Realität gerade in ihrer ganzen verwirrenden, doppelbödigen Grausamkeit vor den eigenen Augen entfaltet.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
24/7
- Superchargeur 24/7
- doch wir sind zu beschäftigt
- das Auto zu laden
- schweben auf mit Regen gefüllten Wolken
- trennen Weisses von Buntem
-
tauschen den Adapter gegen Brot
- Meeresrauschen 24/7
- doch wir sind zu beschäftigt
- um am Strand zu spazieren
- Magnesiumtabletten in Kohlensäurewasser
- wir werfen im Kinosaal
- mit Popcorn um uns
- treffen die Leinwand und Girlcrush
-
Léa Seydoux
- Ferienstimmung 24/7
- doch wir sind zu beschäftigt
- um es zu geniessen
- wünschen uns weniger Salvini
- dafür mehr veganes Tiramisu
- wünschen uns weniger Bolsonaro
-
dafür mehr Orang-Utans
- Superchargeur 24/7
- doch wir sind zu beschäftigt
- um das Auto zu laden
- jagen Sektenanführer und unbezahlte Rechnungen
- tauschen unselige Nachrichten
- gegen den lichtverschmutzten Sternenhimmel
Kommentar von Nick Lüthi
Wie bei vielen von Lea Schlenkers Gedichten, evoziert auch «24/7» einen Moment. Bei der Lektüre entfaltet das Gedicht sofort seinen vermeintlichen Ursprung: Es riecht nach grenzenloser Freiheit und unbändigem Vorwärtskommenwollen. Nach Strand, Meer, mitteleuropäischer Küstenlandschaft. Der Urlaub fungiert dabei als Verstärker, alles wirkt grösser, schneller und unbändiger, als es in Tat und Wahrheit vielleicht ist. Die Reisenden, das lyrische Wir, sind dabei konstant überfordert, für die Sinneseindrücke und das Neue bleibt keine Zeit zur Einordnung. Der Roadtrip im Elektroauto ist so unbändig, dass selbst die beiden zwangsläufigen Ladestopps zu Momenten der Bewegung werden; entweder wird «geschwebt» oder «gejagt». Schlenker fängt damit die Rauschhaftigkeit ein, die einen guten Roadtrip begleitet.
Wie es genauso oft bei Schlenkers Gedichten geschieht, stoppt das Gedicht aber nicht beim Einfangen des Moments, sondern unterfüttert oder widerstrebt diesem Moment auf einer zweiten Ebene. Hier wird diese zweite Ebene bereits in Teilen in der im Titel ausgedrückten Rastlosigkeit angedeutet. «24/7» läuft das Leben, es kennt keine Punkte des Stillstands. Das führt dazu, dass die Reisenden zu beschäftigt für alles sind, egal, was ihnen widerfährt, in jeder Strophe rufen sie die Beschäftigung wieder aus. Gewichtiger als die Geschäftigkeit, die ja zu einem guten Urlaub irgendwie auch dazugehört, sind die Themen, die trotzdem zu den Reisenden durchdringen. Der Urlaub ist keineswegs ein sorgloser, die politische Gegenwart dringt mit den Akteuren Salvini und Bolsonaro genauso durch, wie die über die Orang-Utans ausgedrückte Sorge um das Klima und die Umwelt. Auch die Wirtschaftskrise begleitet die Reisenden und der Sternenhimmel ist nur noch in lichtverschmutzter Form zu geniessen.
Es gehört genauso zu diesem Gedicht, dass es die unbändigen Freiheitsmomente eines Urlaubs einfängt, wie dass die äusseren Umstände, völlig unabhängig von den inneren, nicht ausser Acht gelassen werden können und den Roadtrip unweigerlich begleiten.
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Opfer der Hautesser
- :
- Opfer
-
der Hautesser
- Augen aus
-
Glas
- schon in der Schule
-
verarschte man dich
- wegen deines Achselhaars
- oder aber der zu kleinen
-
Brüste
- um mit
- niemandem zu reden
-
hattest du deine
- Strategien: Buch lesen
- Klo gehen
-
Semmel essen
- man schlug dich
- am Gang
-
bis dein Bruder kam
- du stopftest dir
-
den BH aus
- mit Watte: half nix
-
jeder lachte
-
dich aus
- später die
-
Männer:
- deine Aufesser
-
Hautesser
- du kauertest dich in
- ihre Schale: einmal
- zweimal
-
dreimal Ich
- weggeatmet: wenn sie
- eingebildet waren sagtest
-
du immer sie hätten
- einen Minderwertigkeits
-
Komplex und
- liebtest
-
sie weiter bis
-
Blut kam
- noch heute ziehst
-
du dir deine Schatten an
- lässt dich schlagen
-
um nicht gleich
-
wegzusterben
- Opfer der
- Hautesser
Kommentar von Nick Lüthi
Dreimal tauchen die titelgebenden Hautesser in Sophie Reyers Gedicht auf. Zu Beginn, in der Mitte und am Ende. Die Hautesser sind dabei durchgängig negativ belegt, haben das lyrische Du zum Opfer auserkoren. Die Hautesser agieren einfältig, körperliche Merkmale reichen ihnen zum Ausbruch ihrer alles verschlingenden Gier. Das ändert sich auch später nicht, es gibt zwar Strategien gegen die Hautesser, aber spätestens durch den in der Mitte des Gedichts eingeleiteten Transformationsprozess der Hautesser werden diese wirkungslos. Mit der Transformation der Hautesser erhebt sich auch ein Widerspruch: Sie sind zugleich Gefahr, als dass sie auch Schutz bieten, sie werden als Schalentiere sogar Subjekte der Liebe.
Die in den Hautessern angelegte Metaphorik scheint im Rahmen des Gedichts eindeutig, trotzdem lohnt sich ein Blick auf den metaphorischen Ursprung der Hautesser, also der Hausstaubmilben, deren wissenschaftlicher Name Dermatophagoides als Hautesser übersetzt werden kann. Natürlich, sie sind hier vordergründig nicht gemeint, trotzdem ergeben sich einige Parallelen. Genauso wie man die Milben nicht loswird, wird das lyrische Du die Hautesser nicht los, hartnäckig bleiben sie auf und in der Haut stecken. Auch «wegatmen» lassen sie sich nicht, genauso wie Hausstaubmilben die Atemwege befallen können. Und auch in ihrer Grösse sind sie sich ähnlich, mikroskopisch klein und von entsprechenden Komplexen befallen.
Auffällig bleibt am Gedicht, dass es keine Lösungen anbietet, das lyrische Du steht am Ende genauso als Opfer der Hautesser da, wie es dies zu Beginn getan hat, vorerst unabhängig von den Veränderungen, die dazwischen stattgefunden haben. Das Gedicht selbst verändert aber durch seine blosse Existenz diesen Umstand: Es bleibt zwar eine Opfer-Täter-Dynamik bestehen, aber die Täter sind bekannt, werden benannt und in ihren Eigenarten entlarvt. Das Du weiss, wie es zu ihnen steht, was sie machen werden und was von ihnen gefürchtet werden muss. Damit findet eine Überwindung statt, das abschliessende «Opfer der/ Hautesser» steht unter gänzlich anderen Vorzeichen, wie das erste. Nicht nur die Hautesser haben sich gewandelt, sondern auch das lyrische Du.
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reihen, folgen
parlanDO UT DES
alpha
- raben haben
- lachen machen
- maden laden
- grafen trafen
- sagen lagen
- schinakeln rakeln
- malen mit walen
- damen samen
- fahnen mahnen
- kapern apern
- waren sparen
- asen rasen
- penaten verraten
- katzen ratzen
- auen sauen
- agaven versklaven
- haxln kraxln
- leiden meiden
- spazien für grazien
beta
- haben raben
- machen lachen
- laden maden
- trafen grafen
- lagen sagen
- rakeln schinakeln
- mit walen malen
- samen damen
- mahnen fahnen
- apern kapern
- sparen waren
- rasen asen
- verraten penaten
- ratzen katzen
- sauen auen
- versklaven agaven
- kraxln haxln
- meiden leiden
- für grazien spazien
gamma
- spazien haben
- leiden machen
- haxln laden
- agaven trafen
- auen lagen
- katzen rakeln
- penaten mit walen
- asen samen
- waren mahnen
- kapern apern
- fahnen sparen
- damen rasen
- malen verraten
- schinakeln ratzen
- sagen sauen
- grafen versklaven
- maden kraxln
- lachen meiden
- raben für grazien
delta
- sparen raben
- rasen lachen
- verraten maden
- ratzen grafen
- sauen sagen
- versklaven schinakeln
- kraxln malen
- meiden damen
- für grazien fahnen
- apern kapern
- haben waren
- machen asen
- laden penaten
- trafen katzen
- lagen auen
- rakeln agaven
- mit walen haxln
- samen leiden
- mahnen spazien
Kommentar von Nick Lüthi
Gerade einmal 40 Wörter sind es, die den Textapparat dieses Gedichts bilden. Und gleich vierfach präsentiert Herbert J. Wimmer diesen Textapparat, immer neu kombiniert. Die zehnte Zeile bildet dabei den Mittelpunkt, sowohl wortwörtlich, da sich davor und danach jeweils neun Zeilen des Gedichts fortsetzten, als auch, weil es die einzige Zeile ist, die immer aus dem gleichen Instrumentarium besteht: «kapern apern». Bei «Kapern» respektive «kapern» erschliesst sich die Bedeutung sofort, bei «apern» hilft nur der Griff ins Wörterbuch: süddeutsch, österreichisch, schweizerisch, schwaches Verb, Betonung auf der ersten Silbe, Synonym für auftauen, tauen. Durch die Doppelbedeutung von K/kapern bleibt es aber schlussendlich unklar, ob Piratenschiffe übernommen und aufgetaut werden oder Blütenknospen.
Was bei Alpha noch behauptet wurde, wird bei Beta zur Frage und bei Gamma und Delta komplett neu gemischt. Das einst klar erkennbare friedliche Treffen der Grafen wird infrage gestellt, die Grafen werden danach zu Versklavern um schlussendlich, wiederum friedlich, tief und fest das Ende der Kombinatorik zu verschlafen. Diese Bedeutungsverschiebungen sind im Titel bereits mitgedacht, durch das sprechende, aus der Rechtswissenschaft entliehene, «DO UT DES», also die Erbringung einer Leistung ausschliesslich aus Erwartung der vereinbarten Gegenleistung. Wimmers Gedicht stellt die Lesenden zwangsläufig und explizit auch vor die Frage, was nun die Gegenleistung eines Wortes hin zum Anderen ist.
Sinnbildlich steht der Titel auch für die Sprache selbst, die sinnvollerweise nur funktionieren kann, wenn sie in einem grösseren Kontext steht. Die vier Teile grasen dabei den Minimalkontext dieser Funktion ab, nur in Kombination mit jeweils einem anderen Wort lassen sich Sinnzusammenhänge herstellen. Aber natürlich, diese Zusammenhänge entstehen eher bei der Leser:in, als dass sie sich tatsächlich aus dem Textapparat ergeben. In aller Konsequenz entlarvt Wimmers Gedicht uns als Leser:innen selbst, als Gegenleistung für unser Suchen nach der sprechenden Sprache erwarten wir Sinn, welcher, intendiert oder nicht, aus diesen Wortpaarungen erwächst.
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Sieben Septillionen Jahre
- Sieben Septillionen Jahre
-
zählte ich die Meilensteine am Rande der Milchstrasse.
-
Sie endeten nicht.
- Myriaden Aeonen
-
versank ich in die Wunder eines einzigen Thautröpfchens.
-
Es erschlossen sich immer neue.
-
Mein Herz erzitterte!
- Selig ins Moos
-
streckte ich mich und wurde Erde.
- Jetzt ranken Brombeeren
- über mir,
- auf einem sich wiegenden Schlehdornzweig
-
zwitschert ein Rotkehlchen.
- Aus meiner Brust
- springt fröhlich ein Quell,
- aus meinem Schädel
- wachsen Blumen.
Kommentar von Nick Lüthi
«Sieben ...» stammt aus der Urfassung des Phantasus, dem bedeutendsten lyrischen Werk Arno Holz'. Diese erste Fassung von 1899 wurde von Holz im Laufe der Jahre radikal erweitert und umgearbeitet und es existieren mindestens zwei weitere, von Holz angefertigte Fassungen des Phantasus (wobei es auch schon eine Vorfassung in einem vorausgehenden Band gab). Holz hat das Weiter- und Umarbeiten seiner Gedichte als zentralen Aspekt seiner künstlerischen Praxis verstanden.
Die Erstversion der Gedichte ist, im Vergleich zu den späteren Fassungen, sowohl in der Länge noch fassbar als auch inhaltlich zugänglich. Was in späteren Versionen durch einen Schwall von Adjektiven und Komposita erschwert wird. In der Erstfassung scheint die Frische, der nie abgelegte Wortzauber dieser Gedichte dafür etwas weniger durch. Man muss sich beim Lesen von Holz' Gedichten immer wieder vergegenwärtigen, dass die meisten deutschsprachigen Dichter:innen noch gut 40–50 Jahre nach Erscheinen des Phantasus weiterhin in gebundenen, gereimten Formen geschrieben haben.
Im vorliegenden Fall beschreibt Holz einen Zerfallsprozess, etwas, das sich in jüngerer Vergangenheit beispielsweise im ersten Band von Eva Maria Leuenberger «dekarnation», als zentrales Motiv wieder beobachten liess. Der Zerfall ist im Fall von Holz aber kein bedauernswerter, das sich ins Moos legende Lyrische-Ich geniesst diesen Prozess, der die zu Beginn angestossene Beobachtung zeitlich unbeschränkt fortfahren lässt.
Die Natur, respektive deren Beobachtung bildet zwar den Ausgangspunkt, die Beobachtung ist aber insofern unbefriedigend, als sie sich als unerschöpflicher Quell erweist, der zwar in seinen Eckdaten zählbar bleibt, aber in unendlicher Folge fortbesteht. Erst die Umkehrung der Beobachtung ins wortwörtliche eigene Erleben, also in die Naturwerdung, erlaubt schlussendlich einen Blick, der sich um die Zählbarkeit der Dinge nicht mehr kümmern muss und die Natur in all ihren Möglichkeiten erfahrbar macht. Eine erstaunlich moderne poetologische Haltung.
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Müdes Lied
- Ich möchte schlafen, denn ich bin so müd,
- und so müd und wund ist mein Glück.
- Ich bin so allein – selbst mein liebstes Lied
-
ist fort und will nicht mehr zurück.
- Schlaf’ ich einmal, so träume ich auch,
- und Träume sind so wunderschön.
- Sie zaubern einen lächelnden Hauch
-
auch übers schwerste Geschehn.
- Träume tragen Vergessen mit sich
- und schillernden bunten Tand.
- Wer weiß es – vielleicht auch bannen sie mich
-
für ewig in ihr Land.
- 23.12.1941
Kommentar von Nick Lüthi
57 Gedichte sind von Selma Meerbaum-Eisinger überliefert. «Blütenlese» hat sie die auf Einzelseiten mit Füllfederhalter niedergeschriebene Sammlung getauft. Vor ihrer Deportation ins Arbeitslager Michailowka ist es ihr noch gelungen, die Sammlung weiterzugeben, die danach über viele Stationen bis nach Israel in einen Banksafe gelangt ist. Veröffentlicht wurde sie erst 1980, dafür mit grossem Erfolg. Erlebt hat Meerbaum-Eisinger diese späte Anerkennung nicht, sie starb 1942 18-jährig ein halbes Jahr nach ihrer Deportation ins Zwangsarbeitslager.
«Müdes Lied» sticht aus Meerbaum-Eisingers Sammlung an Gedichten heraus, weil es, direkter als die meisten anderen, der darin angelegten Melancholie nachgibt. Wobei, angesichts des Zeitpunktes zu dem es entstanden ist, scheint Melancholie euphemistisch und ist nur im direkten Vergleich zu den anderen Gedichten eine sinnvolle Kategorie. Wichtiger ist hier der klar ausgelotete Metaphernraum: Schlaf, Traum, Einsamkeit.
Die Träume erlauben ein Entkommen aus der Einsamkeit und der Realität. Was zuvor noch durch Lieder erwirkt werden konnte, ist nun ausschliesslich über den Traum zugänglich. Als Vehikel des Vergessens überwinden sie den so aufgespannten Bogen. Meerbaum-Eisiniger dekliniert diesen Traumraum konsequent durch und erlaubt sich auch einfache Sprachbilder und Zuschreibungen, ohne aber dem Kitsch anheimzufallen. So verwundert es nicht, dass das gesuchte Glück ein volatiles Gut ist.
Denn, wie wir beim erneuten Lesen des Titels merken müssen, die Träume existieren nicht wirklich, sie sind, genauso wie die darin erschaffenen Vehikel des Vergessens, selbst Vehikel, erschaffen aus einem, kurz vor Weihnachten gesungenem, müden Lied.
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Das Perlgewebe
- Ich sitze dunkle Frau in meinem Zimmer,
- stille, dunkle, große Frau.
- Weiß ist das Zimmer, weit seine Wände;
- weiß ist mein Kleid, mein Webstuhl weiß.
- Und vor mir buntgehäuft ein Schatz Perlschnüre.
-
Was will ich dunkle Frau denn weben? – Mein Leben.
- Weiß, weiß und golden sind die Farben meiner Jugend,
- ein morgenblauer Himmel über mir.
- Himmelschlüssel blühn auf unsern Wiesen.
- Viele kleine Blumen will ich weben,
- zart ein glückliches Lachen dazwischen,
-
Alles leuchtet dem spielenden Kind.
- Mutter starb. Die Farben werden blasser.
- Dunkle Trauerzweige sprießen auf,
- schwanke Linien aus flimmerndem Grund,
- Thränen glitzern, Sehnsuchtsthränen.
- Kind, ich große Frau möcht gern dich trösten;
-
sieh, ich setz ein funkelnd Sternlein über dich.
- Und nun mischen sich die bunten Perlen:
- stolz und heftig schießt ein Blutrot hoch
- durch ein trotziges Gelb in schroffen Kanten,
- hell im Kampf mit strengen grauen Mächten
- bäumt die aufwärtsflammende Seele sich:
-
rot und golden sind die Farben dieser Jungfrau.
- Und aus Rot und Gold paart sich ein Schrei nach Liebe.
- Rosen blühn aus meinen Händen auf,
- jeder Kelch voll Tau und Sonnentraum.
- Schwer in Büscheln rankt sich ein Clematisstrauch
- um die Rosen lilasanft ins Blaue;
-
die Verheißung glüht aus allen Blüten.
- Die Erfüllung log. Nun wirren sich die Fäden.
- Fahl und grell verschlingen sich die Schnüre.
- Jeder Weg ein Irrweg, und kein Kreis geschlossen.
- Zuchtlos drängt sich wildes Gestrüpp
- über meine Wiesen, meinen Blumenteppich;
-
und der Stern der Mutter birgt sich hinter Nebeln.
- Da – ein klarer Klang: stark: eines Helden Ton.
- Schwarz wie der Ursprung, golden wie das Licht,
-
und moosgrün wie der Wald, aus dem die ersten Menschen kamen.
- Auch blau sein Himmel, aber mittagsblau;
- auch rot sein Blut, doch nordlichtnächtig rot.
-
Und über Alles breitet sich sein Glanz.
- O wie sich unsre Farben herrlich einen:
- Leere wird Fülle, und sie strömt wie Quellen,
- aus ihren Fluten steigt des Schöpfungstages Feste,
- mein Stern strahlt durch des Weltbaums Blütenäste –
- So kann ich meine Träume und mein Leben
- zum Werk verwebt in Gottes Hände geben.
Kommentar von Nick Lüthi
Das erste auf poesie.xyz veröffentlichte Gedicht ist kein zeitgenössisches. Es steht daher in einem Gegensatz zur erklärten Ausrichtung des Magazins. Das hat viele Gründe, einer davon ist, dass es trotz seines Alters unverkennbar frisch ist. Es glänzt immer noch so, wie die darin heraufbeschworenen und verarbeiteten «bunten Perlen». Auch, weil darin eine Frau spricht; eine mit Attributen bedachte, «stille, dunkle, große Frau». Zwei so verwebte Attribute der Frau tauchen wieder auf: Dunkel ist der Tod der Mutter und besonnen spricht die große Frau zum Kind-Ich. Nur still ist sie nicht mehr, die Frau. Die Stille wird durch das Gedicht selbst abgelegt.
Denn still durchbricht Ida Dehmels Gedicht eine 1913 erstmals veröffentlichte Gedichtsammlung ihres Mannes Richard Dehmel. Auf den Seiten 74 und 75 im Band «Schöne wilde Welt» taucht es überraschend auf. Lapidar unterschrieben mit Von Ida Dehmel. Die unaufmerksame Leser:in wird denn auch überlesen, dass die Autorschaft wechselt, gestalterisch unterscheidet sich der Hinweis nicht von Widmungen im Band. Wie genau es zu diesem eingeschobenen Gedicht gekommen ist, bleibt ein Rätsel, weitere Gedichte (mit einer Ausnahme im gleichen Band) sind von ihr nicht überliefert. Bekannt ist Dehmel als Aktivistin für Frauenrechte und als Advokatin für weibliche Kunst, etwa als Gründerin des Bunds Niederdeutscher Künstlerinnen.
Man muss sich die Frage stellen, was für Gedichte Ida Dehmel noch geschrieben hätte, hätte sie ihre eigenen künstlerischen Ambitionen verfolgt und wäre sie nicht im Zweiten Weltkrieg durch die Verfolgung der Nazis verstorben. So bleibt ein grosses Gedicht einer stillen, dunklen, großen Frau. Das scheint mir kein schlechter Grund zu sein, um es zum ersten Gedicht dieses Magazins zu machen.
Magazin für das Moment Magazin für das Moment Magazin für das Moment
Am Ende öffnet sich eine Tür in die Ungewissheit: Das Geheimnis des lyrischen Ichs bleibt verwahrt, schnell hinuntergeschlungen verschwindet es. Durch die Vergangenheitsform bleibt offen, ob die Geheimnisse weiterhin bewahrt werden oder mittlerweile den Weg zurück an die Oberfläche und in die Köpfe anderer Menschen gefunden haben. Larissa Waibels Gedicht wechselt konstant zwischen dem Physischen und dem Mentalen: Die Worte, die als Geheimnis bewahrt werden müssen, drängen konstant ins Physische vor, manifestieren sich in den «gierigen Augen», den «druckerschwarzen Fingern», den «lachenden Kehlköpfen» der Anderen. Das zieht sich akustisch weiter, der ungebetene Gast versucht sich die Gedichte frech zu erklopfen, erst als die Worte in ihrer physischen Form verschwinden respektive physisch nur noch im «Magen voller Worte» des lyrischen Ichs existieren, kehrt Ruhe ein. Fortan werden sie da ihr Dasein frönen können, ohne Angst vor unerwünschter Entdeckung haben zu müssen.
Durch das konstante Spiel zwischen den Räumen, in denen die Worte existieren können (dürfen), verhandelt das Gedicht zumindest implizit den Wert von Worten. Wer hat das Recht, die Worte des lyrischen Ichs zu hören, zu erfahren, in den eigenen Körper zu überführen? Damit einhergehend wird die Angst um den Kontrollverlust dieser Überführung thematisiert; was passiert, ist nicht mehr vollständig durchs lyrische Ich bestimmbar. Und so bleiben die Worte lange geheim. Ob sie es weiterhin sind, darüber schweigt das Gedicht. Es bleibt uns Leser:innen überlassen, uns mit dieser Ungewissheit zu arrangieren.