Das Perlgewebe

1. August 2022
  • Ich sitze dunkle Frau in meinem Zimmer,
  • stille, dunkle, große Frau.
  • Weiß ist das Zimmer, weit seine Wände;
  • weiß ist mein Kleid, mein Webstuhl weiß.
  • Und vor mir buntgehäuft ein Schatz Perlschnüre.
  • Was will ich dunkle Frau denn weben? – Mein Leben.

  • Weiß, weiß und golden sind die Farben meiner Jugend,
  • ein morgenblauer Himmel über mir.
  • Himmelschlüssel blühn auf unsern Wiesen.
  • Viele kleine Blumen will ich weben,
  • zart ein glückliches Lachen dazwischen,
  • Alles leuchtet dem spielenden Kind.

  • Mutter starb. Die Farben werden blasser.
  • Dunkle Trauerzweige sprießen auf,
  • schwanke Linien aus flimmerndem Grund,
  • Thränen glitzern, Sehnsuchtsthränen.
  • Kind, ich große Frau möcht gern dich trösten;
  • sieh, ich setz ein funkelnd Sternlein über dich.

  • Und nun mischen sich die bunten Perlen:
  • stolz und heftig schießt ein Blutrot hoch
  • durch ein trotziges Gelb in schroffen Kanten,
  • hell im Kampf mit strengen grauen Mächten
  • bäumt die aufwärtsflammende Seele sich:
  • rot und golden sind die Farben dieser Jungfrau.

  • Und aus Rot und Gold paart sich ein Schrei nach Liebe.
  • Rosen blühn aus meinen Händen auf,
  • jeder Kelch voll Tau und Sonnentraum.
  • Schwer in Büscheln rankt sich ein Clematisstrauch
  • um die Rosen lilasanft ins Blaue;
  • die Verheißung glüht aus allen Blüten.

  • Die Erfüllung log. Nun wirren sich die Fäden.
  • Fahl und grell verschlingen sich die Schnüre.
  • Jeder Weg ein Irrweg, und kein Kreis geschlossen.
  • Zuchtlos drängt sich wildes Gestrüpp
  • über meine Wiesen, meinen Blumenteppich;
  • und der Stern der Mutter birgt sich hinter Nebeln.

  • Da – ein klarer Klang: stark: eines Helden Ton.
  • Schwarz wie der Ursprung, golden wie das Licht,
  • und moosgrün wie der Wald, aus dem die ersten Menschen kamen.

  • Auch blau sein Himmel, aber mittagsblau;
  • auch rot sein Blut, doch nordlichtnächtig rot.
  • Und über Alles breitet sich sein Glanz.

  • O wie sich unsre Farben herrlich einen:
  • Leere wird Fülle, und sie strömt wie Quellen,
  • aus ihren Fluten steigt des Schöpfungstages Feste,
  • mein Stern strahlt durch des Weltbaums Blütenäste –
  • So kann ich meine Träume und mein Leben
  • zum Werk verwebt in Gottes Hände geben.
Ida Dehmel (1870-1942) war eine deutsche Kunstförderin und Frauenrechtlerin. Sie starb 1942 durch Suizid kurz vor der unmittelbar bevorstehenden Deporation durch die Nationalsozialisten.

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Kommentar

Das erste auf poesie.xyz veröffentlichte Gedicht ist kein zeitgenössisches. Es steht daher in einem Gegensatz zur erklärten Ausrichtung des Magazins. Das hat viele Gründe, einer davon ist, dass es trotz seines Alters unverkennbar frisch ist. Es glänzt immer noch so, wie die darin heraufbeschworenen und verarbeiteten «bunten Perlen». Auch, weil darin eine Frau spricht; eine mit Attributen bedachte, «stille, dunkle, große Frau». Zwei so verwebte Attribute der Frau tauchen wieder auf: Dunkel ist der Tod der Mutter und besonnen spricht die große Frau zum Kind-Ich. Nur still ist sie nicht mehr, die Frau. Die Stille wird durch das Gedicht selbst abgelegt.

Denn still durchbricht Ida Dehmels Gedicht eine 1913 erstmals veröffentlichte Gedichtsammlung ihres Mannes Richard Dehmel. Auf den Seiten 74 und 75 im Band «Schöne wilde Welt» taucht es überraschend auf. Lapidar unterschrieben mit Von Ida Dehmel. Die unaufmerksame Leser:in wird denn auch überlesen, dass die Autorschaft wechselt, gestalterisch unterscheidet sich der Hinweis nicht von Widmungen im Band. Wie genau es zu diesem eingeschobenen Gedicht gekommen ist, bleibt ein Rätsel, weitere Gedichte (mit einer Ausnahme im gleichen Band) sind von ihr nicht überliefert. Bekannt ist Dehmel als Aktivistin für Frauenrechte und als Advokatin für weibliche Kunst, etwa als Gründerin des Bunds Niederdeutscher Künstlerinnen.

Man muss sich die Frage stellen, was für Gedichte Ida Dehmel noch geschrieben hätte, hätte sie ihre eigenen künstlerischen Ambitionen verfolgt und wäre sie nicht im Zweiten Weltkrieg durch die Verfolgung der Nazis verstorben. So bleibt ein grosses Gedicht einer stillen, dunklen, großen Frau. Das scheint mir kein schlechter Grund zu sein, um es zum ersten Gedicht dieses Magazins zu machen.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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