Die Linien

Irena Habalik
30. Mai 2023
  • Man sieht es genau; die Linien gehen spazieren
  • auf dem weißausgelegten Feld, noch wird keine Richtung
  • verraten, noch nicht sprüht es Farben, elegante,
  • filigrane Gebilde, Pilger zu den Geheimstätten
  • Tiefspuren hinterlassend. Ein Wink von der Seite,
  • wie die aufgescheuchten Puppen beginnen sie zu laufen,
  • kreuz und quer durch die leichtgewellte Ebene verbiegen
  • sich, verflechten, verknäulen, ein Wirrwarr,
  • man sieht es ungenau, da rechts vom Graziösen
  • nur ein Rest und alles was sich bewegt, das Flache
  • schweben lässt, wird vom Rand zurückgedrängt,
  • an der Grobkante enden. Ob es wohl helfen würde,
  • in die Breitrahmen zu springen? Sich dort zu vervollkommnen.
  • Den Wildlauf könnte man verhindern,
  • wenn man auf sie aufgepasst hätte.
  • Es hieße dann: Wenn die Linien spazieren gehen.
stammt aus Polen, lebt in Wien. Schreibt Lyrik, Kurzprosa, Aphorismen. Publikation von zahlreichen Gedichtbänden, zuletzt «Male dein Schweigen» (Pop Verlag, 2021). Einige Preise, u.a. Theodor-Körner-Preis (Wien 1987).

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Frühling

Luka Peters
26. Mai 2023
  • Fliegen torkeln herein
  • durch’s offene Fenster.
  • Wohnmobile werden geputzt.
  • Motorräder zwitschern ihr Lied
  • von Freiheit und Dreck.
  • Die Mücken tragen ihren ersten
  • Tanzwettbewerb aus.
  • Und du sagst, du liebst mich nicht mehr.
studierte Germanistik und Politikwissenschaft und schreibt Essays, Prosa, Lyrik und Performance Poetry. Veröffentlichungen u.a. in Anthologien und Zeitschriften. Essaypreisträger 2023 Der Bund.

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angeschnitten

Avy Gdańsk
23. Mai 2023
  • ein filetierter nachmittag brutzelt
  • auf den treppen zum fettarmen fluss
  • weitreichende hände streifen die warmen
  • flanken der luft unter durchgebratenen wolken
  • bald kommt sie dort zum erliegen
  • schon verzehren die herbste ihr
  • heißes fleisch mit aufgeplusterten mündern
  • seitdem ist die angst vor den menschen gering
  • die aus lieferbaren zutaten bestehen
  • wie zahnstocher bleiben sie zwischen
  • adventszähnen stecken
  • und hungern aus angereicherten augen
  • wenn die füllung aus dem abend quillt
Avy Gdańsk ist verrückt nach Blässhühnern und Black Metal und lektoriert für den S. Marix Verlag in Wiesbaden. Veröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien, zuletzt in Kassiber und »X – Klimatexte« (vhv verlag). 2020 Hans-Bernhard-Schiff-Preis, 2021 1. Platz bei »Wir sind lesenswert« in Graz.

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Exkurs

Martin Dragosits
28. April 2023
  • Man könnte
  • es kaltes Feuer nennen
  • unbestimmbare Substanz
  • zwischen Sonnenflechtzentrum

  • Augenweiden und gewölbtem
  • Herzsegel

  • eine vorgerückte Ahnung
  • mindestens
  • einen Meter über
  • dem atemlosen Boden

  • Luftpartikel
  • ungeteilte Flächenraster

  • Wortgestöber
  • an den Flanken
  • eine Zehn-Sekunden-Hierarchie
  • mit Fensterglas-Ikonen

  • Lächelrabatt
  • und colorierten Phrasen

  • Man könnte
  • mit empfindlichen Maschinen
  • Vorschlagswerte aufaddieren
  • Formeln nutzen

  • die Zusammensetzung des Lichts
  • an die eigene
  • Vorstellungskraft anpassen
geb 1965 in Wien; zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Zuletz: Weiße Kreide (2017). Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV), des Literaturkreises Podium und des Österreichischen Schriftsteller/innenverbandes.

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faden kreuz weise

Dirk Tilsner
25. April 2023
  • fest im Griff den Zwirn, so weit
  • die linke Hand reicht und im Kopf
  • mein kleiner Minotaurus

  • schnaubt mir nächtens ‘was von
  • der Arena in den Hochetagen, Ruhm
  • und einem Berg aus purem Stolz

  • am Tage packt er mich dann bei den
  • Lippen, im ewigen Kampf des Menschen
  • gegen das Tier in seiner Mitte, stößt

  • mit kompetent versilbten Lanzen auf
  • dem Weg, der durchs Gelaber rinnt
  • durch Dünkelkammern voller Licht

  • der Ausgang ist mir längst gewiss
geb. 1966 in Luckenwalde. Nach dem Abschluss eines Ingenieur-Studiums zog es ihn 1994 nach Lissabon, wo er bis heute mit seiner Familie lebt. Er schreibt vorrangig Lyrik, mit zahlreichen Veröffentlichungen in Anthologien und diversen Literatur-Magazinen.

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Wenn es einmal so weit kommt

Robert Höpfner
21. April 2023
  • Im Frühjahr pilgern die Städter hinaus
  • auf die Dörfer und Fluren, um den
  • heimkehrenden Schwalben zuzujubeln.

  • Zu Sommerbeginn hängt man die Fenster aus,
  • damit die Stubenfliegen über den Tischen
  • ungehindert die Zeit einwickeln können.

  • Nach jedem Regen sperrt man die Straßen
  • den Schnecken zuliebe, die sich auf den Weg
  • gemacht haben auf die andere Seite.

  • An Herbsttagen versammelt man sich
  • unter Bäumen, um den gefallenen Blättern
  • das letzte Geleit zu geben.

  • Am Ende des Winters öffnet man
  • die Kühlhäuser für die Rettung
  • der dahinschmelzenden Schneemänner.

  • Wenn es einmal so weit kommt, wird es
  • nicht mehr nötig sein, Verse zu schreiben -
  • alles wird zu einem Gedicht.
Geb. 1954 in München, Vorstand der Wolfgang-Sawallisch-Stiftung. Schreibt Lyrik, lyrische Prosa und Erzählprosa, bisher acht Buchveröffentlichungen

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bewegungen

Philipp Létranger
18. April 2023
  • diese stille
  • wenn ich im dämmern erwache
  • und mich erinnere

  • an die heimkehrenden boote
  • auf der glänzenden stahlhaut des morgens

  • das tuckern deiner haut
  • die präzise geometrie der vergänglichkeit

  • du hast das mal gelesen
  • irgendwo
  • flochten wir unser lächeln aufs rad
  • die nächte blieben

  • nicht die boote
  • nur das mechanische rattern der güterwagen
  • die fremde geschichten erzählen

  • kantige worte
  • und das blut auf der zunge
  • schmeckt nach eisen

  • wir waren angehalten
  • am ende der bremsspur
  • unserer lippen
geb. 1956 im Bayerischen Wald, aufgewachsen in Stuttgart, lebt seit 1975 in München. Veröffentlichung zahlreicher Gedichte in unterschiedlichen Online-Medien, Literaturzeitschriften und Anthologien. 2022 Preisträger für Lyrik beim Hildesheimer Literaturwettbewerb.

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Morpheus ist zu Scherzen aufgelegt

Peter Zemla
14. April 2023
  • Nach Eintritt in des Schlafes Schloss
  • legt man, was auf den Knochen klebt,
  • an der Garderobe ab. So weit, so schön.
  • Doch sind die Hände wundgeklatscht
  • und flattern fort und bläht der Vorhang
  • sich, es kommt, es kommt, strebt alles
  • auf den Ausgang hin. Dann mag es sein,
  • dass im Gedräng die fremde Haut man
  • überstreift sich und derart fehlerhaft
  • bezogen man in die Nacht hinaussteigt
  • und falsch kraucht in den neuen Tag.
geb. 1964, lebt in Bayreuth. Schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele. 2018 nominiert für den Dresdner Lyrikpreis. 2020 Walter-Serner-Preis. 2023 erscheint «nach noch. Letzte Balladen» (kul-ja! publishing).

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Jesu corona Virginum

Plinio Martini
Übersetzung Christoph Ferber
7. April 2023
  • Jesu corona Virginum
  • sangen unsere Mütter
  • bei der sonntäglichen Vesper,
  • erwartete Erholungszeit zwischen Mittag-
  • und Abendessen, nach so viel Auf-den-Füssen-Stehen,
  • wobei sie an die älteren, in Kalifornien
  • wer weiss wo verlorenen Söhne dachten
  • (die jüngeren, Geduld, sind noch da,
  • mit dem Chorhemd um den Altar),
  • Söhne, von denen sie, durch eine an Weihnachten eilig
  • geschriebene Ansichtskarte, wussten, dass sie
  • noch lebten; sie erinnern sich, wie sie ihnen
  • die Händchen führten, Aufwärts- und Abwärtsstrich,
  • immer das gleiche Stolpern, und jetzt «ich bin
  • euch zu sagen, dass es mir gut geht», Ärmster.
  • Es erhob sich danach der Weihrauchnebel und liess
  • in seinem Wohlgeruch unsere Mütter träumen,
  • vielleicht von der weissen Rose des Doré-Drucks
  • für die Jungfrauen in ihrem glorreichen Flug;
  • von einem Plätzchen für sie, weiter unten, und dann
  • nur schauen, in Ewigkeit dasitzend.

Jesu corona Virginum

  • Jesu corona Virginum
  • cantavano le nostre madri
  • al vespero domenicale, sosta attesa,
  • fra il desinare e la cena
  • e dopo tanto stare in piedi,
  • per ripensare i figli maggiori
  • perduti in California, chissà dove
  • (gli altri, pazienza, ancora lì
  • con la cotta intorno all’altare),
  • saputi vivi con la cartolina
  • scritta in fretta a Natale, a ricordare
  • le manine guidate sul quaderno,
  • asta e filetto, gli stessi inciampi, e ora
  • «sono per dirvi che sto bene», poveretto.
  • S’alzava poi la nebbia dell’incenso, e in quel profumo
  • le nostre madri sognavano, chissà, la stampa
  • della candida rosa del Doré
  • alle vergini il volo favoloso; per loro
  • un posticino sotto, e poi guardare
  • sedute per l’eternità.

Plinio Martini

Plinio Martini (1923-1979) gehört zu den Klassikern der Tessiner Literatur. Zeitlebens als Lehrer tätig, begann Martini sein literarisches Schaffen als Lyriker, berühmt werden liessen ihn aber seine Romane. Eine Auswahl seiner Gedichte erscheint 2023 im Caracol Verlag in einer zweisprachigen Version.

Christoph Ferber

geb. 1954 in Singen, wohnhaft auf Sizilien, ist vor allem als Übersetzer von Lyrik bekannt geworden. Aus dem Italienischen hat er unter anderem übersetzt: Gaspara Stampa, Ugo Foscolo, Vincenzo Cardarelli, Francesco Chiesa, Giorgio Orelli, Fabio Pusterla, Donata Berra, Pietro De Marchi.

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Parapostmoderne Sentimentalität

Frederik Durczok
31. März 2023
  • Draußen am bodentiefen Fenster,
  • mein Aus und alles, sinnbefreit
  • lächelte steril
  • albern
  • banal.

  • Für Tragik hat es nicht gereicht,
  • wieder in der Bar, noch ein größeres
  • Scheitern, mein
  • Ein
  • und …

  • Auf Kleinformat gefaltet
  • zu kleines
  • Gedicht.

  • Draußen am bodentiefen Märchen-Spiegel
  • Seelen-Hülle Frage-Einladung Sinn-
  • Befreiung wieder
  • Scheitern
  • Fenster.
geb. 1986, arbeitet als Musiker, Historiker, Pädagoge und freischaffender Autor. Im Oktober 2022 war Durczok Stadtschreiber in Soltau (Niedersachsen). Zuletzt «Innenseiten» (2022).

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Mont Faron

Irène Bourquin
28. März 2023
  • Am felsigen Steilhang
  • Serpentinen knapp
  • so breit wie das Auto
  • Ausweichbuchten
  • für Gegenverkehr
  • keine – käme einer
  • no risk no fun
  • Schwindelblick
  • auf das Meer
  • die Stadt
  • Toulon den Hafen
  • Kriegsschiffe
  • im Abendlicht

  • Ganz oben wird klar
  • die Strasse ist Einbahn
  • führt rund um den Berg
  • und gewunden zurück

  • Restaurant fermé
  • davor in seinem Gehege
  • kreist ein schwarzer Panther
geb. 1950 in Zürich, lebt in Elsau. Studium der Geschichte und Germanistik, Promotion 1976. 1977–1998 Kulturredakteurin, heute Co-Verlagsleiterin und Lektorin. Schreibt Lyrik, Prosa, Theaterstücke, Hörspiele. Buchpublikationen in diversen Verlagen seit 1986; Beiträge in vielen Anthologien und in Literaturzeitschriften. Im April 2023 erscheint der Lyrikband «Schattenkaleidoskop» (Caracol).

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schlachtschmaus – ein Gedicht

Elis Lira
24. März 2023
  • blumenbrot, blumenbrot
  • holla der rosentod
  • hasennot hosen rot
  • wegen dem vielen blut

  • kohlhaut, kohlhaut
  • wo bleibst du helmut
  • zweitopf zerteilter kadaver
  • wegen der vielen schlachterei

  • hauptschmaus, leichengraus
  • das haus voll abfällen wegen der ganzen
  • putzerei wegen der ganzen
  • sauerei
  • wir essen jetzt sagt da die gisela
lebt und arbeitet in Lissabon.

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Küchenmusik

Nelly Staneva
21. März 2023
  • Gegen Hunger und stille Gewohnheiten,
  • frische Eier von glücklichen Kühen
  • mit Speck und die nebligen Hügel
  • der Glocke führen zu Heldentaten:
  • deux heures schlafen, dann direkt
  • zum Weißwein. Bereit
  • auch die Stille zu küssen,
  • aber sie versteckt sich in einem Laib Brot,
  • klappert mit einem unbekannten Dialekt.
  • Das ist es, denkst du, ein Fest wird es sein.
  • Die Assonanz ist perfekt,
  • deine Stimmbänder schwellen rasch an,
  • das Jodeln der Pfannen, ja, ja,
  • ein Ton râpe à fromage, die Freiheit
  • verstopft dir endlich den Mund.

Глад за музика

  • Противно на всякакви навици,
  • яйцата на пресните крави
  • с бекон и мъгливият склон
  • на камбаната водят до подвизи:
  • сън deux heures, а после направо
  • към бялото вино. Готов
  • да нацелуваш и тишината,
  • но тя яхва самун селски хляб
  • и дрънчи с непознат диалект.
  • Някакъв празник ще да е.
  • Какъв съвършен асонанс,
  • набъбват ти гласните струни,
  • айларап от тигани, да, дада,
  • щипка râpe à fromage и
  • свободата запушва устати ти.

Die Übersetzung aus dem Bulgarischen stammt von der Autorin.

Geb. 1983 in Bulgarien, lebt seit 2010 in der Schweiz. Schreibt Lyrik, Kurzgeschichten, Essays, Kritik. Aktuell auf dem Tisch - der erste Roman und ein zweiter Lyrikband. Zwei Bücher sind bisher auf Bulgarisch erschienen.

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Am Ende einer groszen Verwirrung

Hendrik Otremba
17. März 2023
  • Dich gibt es nur einmal, auf diesem Planeten
  • Du bist einer von hundert Menschen die noch leben
  • Du bist tausend Jahre alt, kannst gerade mal aufrecht gehen
  • Die Menschen essen Menschenfleisch, nur du bleibst draußen stehen
  • Wir tragen schwarzes Leder, wir tragen fremde Haut
  • Wir gehen nicht mehr schlafen, dafür ist es zu laut
  • Die Menschen spielen Spiele, ich bin immer allein
  • Nachts hol ich die Schätze rauf, viel mehr kann ich nicht sein
  • Wir gehen niemals baden, es gibt kein Wasser mehr
  • Die Rohre singen leise, sie sind für immer leer
  • Ich glaube ich kann nicht sterben, ich bin schon immer da
  • Ich hab alles gesehen, was mit den Menschen war
  • Sie kannten schon ihr Ende, sie haben es gewusst
  • Ich habe sie beobachtet, ich kann nicht nur, ich muss
  • Mein Anfang ist mein Glaube, mein Ende wird er sein
  • Ich glaube nur an mich, ich lebe nur zum Schein
  • Was nützt auch die Erzählung, wenn keiner übrig ist?
  • Ich atme mich durchs Vakuum, ich werde nicht vermisst
  • Wir sind des Rätsels Zeugen, wir könn’ es nicht verstehen
  • Wenn wir mal etwas spüren, dann dass wir untergehen
  • Ich träum von deinem Körper, mein Traum lässt mich nicht rein
  • Der letzte Mensch der Erde, werd ich für immer sein
  • Ich schreib mir von der Seele, was ich nicht wissen kann
  • Ich schreibe mich lebendig, bin Gottes letzter Mann
  • Was wollt ihr von mir hören, ich wahre bloß den Schein
  • Das Paradies wird untergehen, es wird die Hölle sein
  • Auch tausend letzte Worte ändern nichts daran
  • Zeigen mir nur wieder mal, dass ich nichts ändern kann
  • Dann seh ich jemand andern, ein Mensch, der mich erfüllt
  • Ich mach ihm schöne Augen, es ist mein Spiegelbild
  • Warum bin ich so einsam, ich halt es nicht mehr aus
  • Mit Händen nass von Tränen, grab’ ich die Toten aus
  • Ich hab jetzt keine Angst mehr, und spür auch keine Wut
  • Ich hege wieder Hoffnung, der Tod, er steht uns gut
  • Vergiss was ich erzählte, es war nicht so gemeint
  • Wir fangen nochmal von vorne an, wir sind wieder vereint
  • Ein Fenster fliegt zum Fenster raus, ich kann es nicht mehr sehen
  • Was ich nicht sagen kann, brauch ich auch nicht verstehen

  • Im Staub tanzen die Toten aus einer anderen Zeit
  • Ich schaue ihnen zu, ich bin für dich bereit
  • Unter der toten Sonne, betten wir uns auf Lehm
  • Wir schlafen mit der Erde

  • Sie kann nicht untergehen
geb. 1984 in Recklinghausen, lebt in Berlin. Schriftsteller, bildender Künstler und Sänger der Gruppe Messer, Dozent für kreatives Schreiben. Zuletzt «Benito» (2022, Märzverlag). Im März erscheint der Gedichtband «Wüstungen, Nebel» (2023, Märzverlag) und das erste Soloalbum «Riskantes Manöver».

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streulichter

Monika Vasik
14. März 2023
  • aus mythischen gefilden der erinnerung
  • gaukeln reflexionen empor ändern namen
  • die luft wird zum seelenarchiv feinkörniger
  • partikel die lang sam l a n g s a m zu boden
  • sinken in serien von augenblicken wie einer
  • ankommt sich hinsetzt wie einer atmet
  • die schrammen in seinem gesicht wiegt
  • wie er redet dabei die konsonanten und
  • vokale artikuliert wie er gestikuliert wie
  • den arm beugt das geweih seiner hände
  • knacken lässt wie er den kopf hebt wie
  • sich in wiederholungen regt wie stark
  • einer dir die hand drückt wie er leicht
  • aufsteht wie seine schatten wirft welche
  • regungen er hinterlässt beim gehen
geb. 1960 in Wien, Ärztin, Lyrikerin, Buchrezensentin, Moderatorin; Lise-Meitner-Literaturpreis 2003, Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis 2020. Mehrere Lyrikbände. Zuletzt «hochgestimmt» (2019, Elif) und «Knochenblüten» (2022, Elif).

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ELEGIE IX

Christian Rechsteiner
10. März 2023
  • “Was frag ich nach der welt! sie wird in flammen stehn:”
  • Andreas Gryphius

I

  • wir haben keine dogmen
  • kein manifesto keine emotion
  • keinen tractatus keinen tod
  • keine wunder keine vision
  • keinen morgen keine namen
  • keine mythen keine riten
  • wir haben keine dogmen mehr
  • nur leeres stroh und
  • akkumulatoren
  • seltene erden und
  • geschlechtskrankheiten
  • wir haben keine dogmen mehr

  • unsere hände sind taub und leer
  • wir sind frei und
  • gefangen
  • in der weißen
  • weißen
  • wolke

  • wir
  • das volk
  • wir sind das volk
  • das volk
  • das volk volk volk

  • wir sind geliehener
  • staub im exil

II

  • lies w.g. sebald
  • und mach liegestütze
  • wie ein hund
  • im wohnzimmer
  • he spies with slow hands
  • he spies with lizard eyes
  • mach dir keine sorgen deine
  • nekrotischen knochen
  • werden heilen bis in den späten
  • bis in den sommer folge nur
  • dem denken bis zu den
  • hirngrauen tagen

  • niemand kommt mehr hinter die dinge

  • materie und widerspruch
  • gryphius lesen und krieg den palästen
  • zwischen schein und wesen
  • die tyrannei der unsterblichkeit

  • o sybilla sybilla
  • wir beschwören doch nichts wir
  • rufen doch nichts an wir glauben
  • an die sterne und an elon musk

  • ich –
  • dieses überlebensgroße
  • modell o o o o
  • o melancholische nacht
  • wir nahmen schon kerosin
  • we can change our shape
  • into anything

III

  • von der mittagshelle überrascht
  • von den flimmerhaaren in den schlaf
  • gebracht den tod endlich verstehn:
  • warum immer so hysterisch?

  • es wird wohl wege geben von hier nach dort
  • was war und was hätte sein können ich bin hier
  • und nirgendwo anders weder in der zukunft
  • noch an einem anderen ort ich bin hier weder
  • in der vergangenheit noch in dem was gewesen
  • sein wird oder in einer anderen zeit ich bin hier
  • es wird wohl wege geben von hier nach dort
  • und ich bin an jedem andern ort ich bin hier
  • und an jedem andern ort in jeder andern zeit
  • in dem was hätte sein können und in dem
  • was war ich bin an jedem ort in jeder zeile
  • in jedem morgen in jedem wort in jedem tod
  • es wird wohl wege geben von hier nach dort

  • wir haben das alles gehört
  • aber wir sind bankrott

  • morgen abend sind wir verloren
  • es ist die wahrheit

  • wir brauchen einen boykott
  • von rüstungswaffen
  • von streitkräften
  • von schlachtfeldern
  • von meerloser zukunft
  • von lichtmangel natürlich
  • und von gott
geb. 1976 in Münsterlingen, lebt und schreibt in Kreuzlingen, CH.

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Flügelwäschetrockner

Oana Popa
7. März 2023
  • Jesus blickt von der Wand aus mindestens 14 Augen herab.
  • Ich sollte beichten, mit Brot im Munde und Wein im Geiste,
  • dass ich mich unzählige Nächte zwischen den Beinen anfasste.
  • Ich brauche Tabak, Maria Voicu rät mir vom Rauchen ab,
  • das ist eine Männersache.
  • Maria Voicu sagt, ich sollte heiraten, dann müsste ich nicht zum Südbahnhof joggen
  • und allein Kaffee kochen am Morgen.
  • Ich könnte Wäsche waschen, aufhängen (auf dem Flügelwäschetrockner), abnehmen, bügeln, falten, versorgen,
  • so wie es gute Frauen eben tun.

  • Aus dem Zimmer nebenan ertönt das antike Schnarchen von Maria Voicu,
  • es ist zwei Uhr morgens,
  • im tiefsten Schlaf fantasiert sie von Petre Voicu,
  • im luzidesten Zustand bügelt sie Wäsche für sein Phantom.
  • Hundertjährige Porzellantassen ruhen auf den Holzregalen,
  • das Dienstmädchen vorbereitete einst Kakaomilch darin und schwieg,
  • so wies gute Frauen eben taten.

  • Viele Ferientage verbrachte ich wie ein katholischer Priester unter dem Dach von Maria und Petre Voicu,
  • zwischen meinen Oberschenkel erwachte Sexus,
  • doch keiner konnte sich daran vergnügen, denn Maria Voicu verbietet mir nach 24Uhr auf den Strassen zu gehen.
  • Ich sei schon über zwanzig, ich sollte mir ein weisses Kleid kaufen.
  • Maria Voicu sagt: Sei einfach nett zu den Jungs und nicht zu wählerisch!

  • In der Wohnung von Maria Voicu gibt es auch andere Geister.
  • Elisa und Marcela, Verliebte aus 1920, Besucherinnen meiner Träume von Netflix:
  • ihre Berührungen elektrisierend, orgasmuswürdig, 15 Sekunden zurückspulen immer wieder immer wieder bis…
  • Leerer Flügelwäschetrockner.
geb. 1998, rumänische Künstlerin, lebt und arbeitet in Zürich. Studiert Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste, arbeitet nebenbei mit Betagten und mit Kindern.

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Nacktes Leben

Dragica Rajčić Holzner
28. Februar 2023

[für vier Stimmen]

  • Wer kann wen retten
  • ohne sich zu opfern?

1.

Ana

  • nur die Wörter wechsle ich wie
  • Unterwäsche
  • sie lagen lang unter den Rippen
  • erfroren
  • mickrig
  • es war nicht so dass ich sie nicht wollte
  • ich kannte sie nicht
  • rechtzeitig am richtigen Ort
  • frei zu sprechen
  • jetzt sagen sie
  • schaut das ist die
  • und sehen nicht wie
  • ich das erste Mal
  • mein eigenes Kind Wort
  • Wäsche
  • wasche

2.

  • Eurydike
  • unausweichlicher Stolperkörper
  • vergeben
  • vergiftet
  • versunken im Hades
  • mit seiner Stimme
  • der Hoffnung aufgewacht
  • endgültig verloren zurück
  • gesandt in die doppelte Dunkelheit
  • aber ich sage es euch
  • wir trafen uns im Spanischen Bürgerkrieg
  • vor dem Tag als ich die Hand verbrannte
  • sie sprach mit meiner Stimme
  • sie war sehr schön
  • skulpturiert
  • Meine Mutter
  • Mein Vater
  • Liessen mich nicht
  • auf dem Schlachtfeld
  • Freiheit suchen

3.

  • Ich komme
  • aus leeren Orten
  • in welchen
  • ich
  • ahne
  • Glanz
  • oder
  • Anwesenheit
  • mehr oder weniger
  • Handvoll
  • (ja Handvoll)
  • Hoffnung
  • (eingebildete - ich weiss)
  • erblinde fast von
  • Sehnsucht
  • bei dir zu sein
  • ein Augenblick
  • Repariere verletzte Hand
  • wie tief gepflügtes Feld
  • belasse
  • Samen
  • soll mich verbinden,
  • es wird gesagt
  • es ist kein
  • Böses nur für Böse da

  • nije svako zlo za zlo

Gesamten Text lesen

geb. 1959 in Split. Schreibt zunächst in ihrer Muttersprache Kroatisch, beginnt 1978 auf Deutsch zu schreiben. Lebt in Zürich und Innsbruck und arbeitet in der soziokulturellen Animation und als Schriftstellerin. Zuletzt «Liebe um Liebe» (Matthes & Seitz, 2020), «Glück» (Der Gesunde Menschenversand, 2019).

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Linn Meier (†2019)

Martina Hefter
24. Februar 2023
  • Wenn die Wolken schwerer sind als du
  • die Nischen dazwischen riesig
  • Wenn nichts rauskommt aus dir
  • Getreidefelder legen sich quer in dein Zimmer
  • wenn die Tage fett und faul wie Brote sind
  • Füllig und flächig wie Mond
  • mondgesichtig wie dein schlimmstes Wesen im Traum
  • Wesensverändernd wie dein Essen
  • weswegen dus nicht isst
  • weswegen du nicht das Gewicht vom Mond bist
  • Nur einer von den Schatten
  • wenn du dort landen willst

  • Wenn die Erde gar nicht so groß ist
  • wenn die Alpen gar nicht so hoch sind
  • wenn du alles kannst
  • die Sicht reicht nicht weit
  • aber du denkst sie reicht weit
  • großer Wagen, kleiner Wagen
  • locker kommst du an alles ran

Der abgedruckte Text ist ein Auszug aus Linn Meier (†2019). Der Text wurde von Martina Hefter gemeinsam mit den Musikern Timm Völker und Patrice Lipeb als Musik-Performance umgesetzt und kam in mehreren deutschen Städten zur Aufführung.

geb. 1965, Pfronten/Allgäu, ist Dichterin, Tänzerin und Performance-Künstlerin. Sie studierte zeitgenössischen Tanz in Berlin und literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, lebt in Leipzig. Zuletzt «In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen» (kookbooks, 2021)

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