Mitten im Bewerbungsgespräch

1. November 2022
  • rutschte ich zur Seite
  • und hielt das Leben mit einem Bleistift an
  • halbem Sandwich, dampfendem Kaffee
  • mit dem Lärm vorbeifahrender Autos
  • im Turm zu Babel, da hinauf nur
  • ein paar Stufen noch, dann
  • werde ich niemals allein
  • sein, sondern leben
  • auf einem Blatt
  • Pa
  • pi
  • er

בְּרֶגַע אֶמְצַע רֵאָיוֹן עֲבוֹדָה, אֲנִי זַזְתִּי הַצִּדָּה

  • וְעָצַרְתִּי אֶת הַחַיִּים עִם עִפָּרוֹן
  • חֵצִי סֶנְדְּוִיץ’ וְקָפֶה מַהְבִּיל
  • רְעָשִׁים שֶׁל מְכוֹנוֹת,
  • מִגְדַּל בָּבֶל, חֶדֶר
  • מַדְרֵגוֹת וַאֲנִי
  • אַף פַּעַם לֹא
  • לְבַד, חַי
  • עַל הַ
  • דַּף

Mati Shemoelof

Arabisch-jüdischer Autor aus Haifa in Israel, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, die meisten davon Gedichtbände, aber auch Prosa und Essays. Zuletzt auf Deutsch: «Baghdad. Haifa. Berlin.» (2019, Aphorisma, Übers. Jan Kühne).

Jan Kühne

geb. 1978 in Dresden, Studium in Heidelberg, Wien und Jerusalem, wo er seit 2005 lebt. Forscht zu simultaner Mehrsprachigkeit am Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum für Deutsch-Jüdische Literatur und Kulturgeschichte der Hebräischen Universität, an der er auch unterrichtet. Zuletzt «Die zionistische Komödie im Drama Sammy Gronemanns» (2020, De Gruyter).

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Kommentar

«Mitten im Bewerbungsgespräch» ist ein eher unauffälliges Gedicht in Mati Shemoelofs Œuvre, es ist kein politisches Gedicht und beschäftigt sich auch nicht mit den sonst so augenfälligen Themen im Werk wie Herkunft und Identität. Aber wie so oft bei Gedichten zeigt sich seine wahre Dimension erst beim zweiten, dritten, vierten Lesen. Die harmlose Träumerei einer Bewerber:in beim Bewerbungsgespräch wird dann zur Verhandlung von Literatur und Realität und vielleicht zur Daseinsberechtigung. Erst auf dem Blatt Papier spricht sich nämlich das lyrische Ich Lebendigkeit zu. Diese Lebendigkeit auf Papier dient denn auch der Überwindung der Einsamkeit. Eindeutig zu grosse Themen für eine harmlose Träumerei während eines Bewerbungsgesprächs.

Das geschriebene Wort, oder genauer: das mit Bleistift auf einem Blatt Papier festgehaltene Wort, wird in Mati Shemoelofs Gedicht also überhöht und mit beinahe magischen Fähigkeiten ausgestattet. Wichtiger als diese Funktion sind aber die Fragen, die sich durch diese Überhöhung stellen: Warum ist das lyrische Ich einsam? Was macht das lyrische Ich überhaupt an einem Bewerbungsgespräch? Stehen Einsamkeit und das Gefühl der eigenen Unlebendigkeit durch den Kontext des Bewerbungsgesprächs zusammen oder ist dieses nur Auslöser für die Träumerei? Wie ist das Bild des Turms von Babel zu verstehen? Das Gedicht beantwortet diese Fragen nicht, es wirft sie nur auf. Und genau darin finden sich dann auch die Dimensionen, die sich im ersten Lesedurchgang noch versteckt hielten. Man wird plötzlich unsicher, ob das Gedicht nicht auch eine politische Dimension hat, nicht doch auch Herkunft und Identität verhandelt.

Im hebräischen Original ist das «Gespräch» vor über zwanzig Jahren erschienen, von seiner Frische hat es aber wenig verloren, was auch an Jan Kühnes Übersetzung liegt. Kühne setzt das Gedicht im Deutschen in einen einzigen, verschachtelten Satz, der, noch stärker als das Original, mit den ersten und letzten Zeilen («rutschte ich zur Seite» und «Pa/pi/er») den Inhalt auch typografisch unterstreicht. Es erscheint nur konsequent, dass das «Gespräch» wenige Antworten liefert, es spielt ja selbst auf diese Dimension der Literatur an. Abschliessend bleibt uns Leser:innen also nur die Frage, auf welcher Stufe des Turms wir unsere eigenen Fragen, oder allenfalls Antworten darauf, finden (wollen).

PS. Ein grosser Dank sei hier auch noch an den Schriftgestalter Christoph Koeberlin ausgesprochen, dessen Schrift Pangea hier auf der ganzen Seite Verwendung findet. Er hat uns mit einer Beta-Version der hebräischen Variante von Pangea versorgt, damit das Original des Gedichts typografisch genauso gut zur Geltung kommt, wie alle anderen Texte auf poesie.xyz.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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