von ribbentrop meldet sich: warum immer die deutschen!? den schuh will ich mir nicht anziehen!
25.
Oktober
2022
- von ribbentrop sitzt in der ersten reihe, meine lesung ist grad vorbei
- er hat einen safarihut auf und gestopfte pfeife schon im mund:
- ich will mir den schuh nicht anziehen grah grah räusperräusper graaah
- mit tränen in augen vor wut: schlechter text von breyger! schlechter text!
- die italiener sind AUCH schlimm, die franzosen sind AUCH schlimm, die
- timbuktaner, tibetaner, mandariner, apfelsiner, die aliens sind AUCH schlimm
-
usw
- ich habe 2 kinder, ihr riskiert einen atomkrieg, wer denkt an meine kinder
- (witzig, weils im text u.a. darum ging, dass die deutschen friedensengel
- deutsche leben den ausländischen vorziehen)
- als vatergefühle verständlich, nicht böse also, nur ziemlich kurz gedacht
- weils ja die selben eignen kinder dran sind, nachdem russland
- seinen krieg in der ukraine gewonnen hat und mitm baltikum fertig ist
- keine waffen an die ukraine graaah grah, putin könnte das werten
- als kriegseintritt! (weil er mit seinem gesetzbuch dasitzt
- und zehn beratern und die bei tasse tee gemeinsam rechtlich deuten
-
was kriegseintritt ist und was nicht)
- von ribbentrop schreit und tobt, diskussion im publikum
- gefällt mir zuerst, macht spaß, bald dann nicht mehr
- ich schaffe es, ruhig zu bleiben, obwohl ich innerlich heule
- gefühl, als würden die organe nacheinander implodieren
- gewicht, dass in den körper zieht, von unten nach oben
- nach der lesung sag ich ihm: egal, was du erzählst, ich mag dich trotzdem
- und da sind wir beide erleichtert
- ich würd sagen, man mag sagen, was man will, aber bei ihm denk ich:
- integrer mensch
- hat durchaus seine themen, aber integrer mensch
-
und darauf kommt es am ende an
- abends sitz ich im restaurant und sprech ein wenig russisch
- da fällt mir ein, 2 sprachen sprech ich jetzt
- deutsch, russisch
- einmal die, die meine leute massengemordet
- einmal die, die in deren fußstapfen treten wollen und meine andren leute
- umbringen
Yevgeniy Breyger gewann 2019 den Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt, 2020 Stipendien des Deutschen Literaturfonds und des Herrenhauses Edenkoben. 2021 Münchner Lyrikpreis und 2022 Stipendium der Villa Massimo Rom – Casa Baldi. Gastdozenturen für Literarisches Schreiben & Übersetzen an der Universität Hildesheim und an der Ruhr-Universität Bochum.
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Kommentar
Nick Lüthi
Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.
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Die erste, historische Assoziation, die man bei der Lektüre von Yevgeniy Breygers Gedicht macht, stellt sich spätestens in der zweiten Strophe als falsch heraus; der Antagonist von Ribbentrop ist nicht der NSDAP-Kriegsverbrecher, den man mit dem Namen verbindet, der hatte fünf Kinder, nicht deren zwei. Das Gespräch, oder der Kampf zwischen zwei Welten, hier verkörpert durch das lyrische Ich und von Ribbentrop, ist damit ein dezidiert zeitgenössischer, der aber immer wieder historisch kontextualisiert wird, beispielsweise durch die Friedensengel.
Die beiden Gesprächsteilnehmer begegnen sich auf unterschiedliche Weise, von Ribbentrop bereits fest in der Opferrolle und in der Argumentation getrieben von egoistischer Angst, das lyrische Ich mit erstaunlich viel Verständnis, welches erst ganz am Schluss aufbröckelt. Angetrieben wird das Gespräch ausschliesslich von von Ribbentrop, das lyrische Ich entfernt seine Position aus der fiktionalen Gesprächssituation und zieht sie in das Gedicht. Das Geschrei des von Ribbentrop entbehrt der gewünschten Bierernstigkeit, weil Breygers Gedicht das Geschrei jeweils zu Situationskomik verkommen oder mit ironischer Zuspitzung in Klammer zuwiderlaufen lässt. Im Gespräch findet keine Synthese statt, es löst sich nicht auf, weil keine Argumente ausgetauscht werden. Die gesittete Auflösung der Anspannung gelingt nur, weil das lyrische Ich von Ribbentrop Integrität zuspricht.
Yevgeniy Breygers Gedicht ist genauso leise, wie es laut ist. Zwischen dem lauten von Ribbentrop und dem analytisch scharfen (leisen) lyrischen Ich wird nicht verhandelt und trotzdem verlassen sich die beiden Seiten friedlich. Am stärksten hallt dann auch die leise Schlussstrophe nach, die einzig Feststellungen macht, ohne diese Fakten direkt zu bewerten. Damit bringen die letzten Zeilen auf den Punkt, was ein von Ribbentrop nicht begriffen hat: für die meisten Menschen besteht niemals die Möglichkeit auszuwählen, welche Schuhe man sich anziehen will.