vademecum

25. November 2022
  • trink vom tau
  • der auf traubenblau
  • glitzert
  • hör was der schwere
  • brokat erzählt
  • lies die lautlosen silben
  • von den schimmernden
  • muschelrändern
  • riech den duft der lilie
  • und nimm den toten
  • vogel in die hand
  • dann leg alles zurück
  • ins bild, erst jetzt
  • geh weiter
Geboren in Luzern, erhielt ihre grafische Ausbildung an der Schule für Gestaltung in Luzern. Nach langjähriger Tätigkeit als Art Director in Werbeagenturen widmet sie sich heute vermehrt ihrer Schreibtätigkeit und ist in mehreren Luzerner Kultureinrichtungen aktiv. Zuletzt: «Das brennende Haus» (2019, Wolfbach). Ihr neuster Gedichtband wird im Frühjahr 2023 im neu gründeten Lyrikverlag edition ars pro toto erscheinen.

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Kommentar

Ratgeberliteratur hat ja (berechtigterweise) nicht unbedingt den besten Ruf, was aber, wenn sie in Gedichtform vorgetragen wird? Katharina Lanfranconis Vademecum ist kurz, gerade einmal sieben Ratschläge sind darin enthalten. Die ersten fünf rufen zum Sammeln auf, die letzten zwei beschreiben, wie mit dem gesammelten Gut umgegangen werden soll: unberührt soll die Welt zurückgelassen werden. Berührt wird nur die Sammlerin von den Eindrücken, die sie in der Zwischenzeit, nach Anleitung, angehäuft hat. Lanfranconis Gedicht ruft zum Verweilen auf, zum genauen, stillen Beobachten und zum Aufnehmen der Wunder, die die Umwelt nur bei genauer Beobachtung freilegt. Der tote Vogel ist dabei die verdächtigste Aufforderung, er steht bereits still und wird erst durch die Beobachterin wieder in Bewegung gebracht. Stillstand und Bewegung – die zentralen Muster des Gedichts stehen sich da am nächsten.

Mit dieser Dynamik positioniert sich das Gedicht auch selbst: Auf den ersten Blick kann es als verhältnismässig harmloses Naturgedicht gelesen werden, auf den zweiten offenbart die Dynamik das Wirken des Menschen. Zwar ist der Mensch hier hauptsächlich in einer Beobachterrolle, trotzdem ist er es, der die Natur in Bewegung versetzt und erst am Schluss alles wieder an seinen angestammten Platz legt. Und in dieser umgedeuteten Rolle des Menschen findet sich der Unterschied zu einem harmlosen Naturgedicht: Der Mensch ist ja bekannt dafür, die Natur sowohl in Bewegung zu versetzten, als sie auch verändert zurückzulassen. Eben nicht nur zu beobachten, sondern sie als Mittel zum Zweck zu nutzen. Die Natur ist uns kein Bild, welches wir bewundernd betrachten, sondern ein endlicher Quellbrunnen unserer Gier, den wir mit Eimern und Schöpfkellen ausheben, bis er versiegt. Katharina Lanfranconis Ratgebergedicht bezieht dazu leise aber dezidiert Stellung; nicht mit normativem Charakter, dafür mit Vorbildfunktion. Wenn man so will: Es steht in einer tugendethischen, nicht in einer deontologischen Tradition. Dass das ursprüngliche Verständnis von «vade mecum!» («geh mit mir!») dabei auch mitschwingt, ist nur ein weiteres Indiz für die im Gedicht angelegten Tugenden.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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