Frosch und Meer
6.
Dezember
2022
- Bleiblau
- webte
- das Meer
- seine gelb umrandeten
-
Morgendämmerungen
- und ein Frosch
- mit seiner dämmerungsaktiven Stimme
- ließ das metallische
- Tropfen
- seines Gequakes
-
fallen.
- Offen
- das Unendliche
- zu meiner Rechten
- links
- der mathematische Punkt
- an dem ein Grünton
- aus rostigem
- Moos
-
losbricht.
- Allein. Zerstreut.
- Ein Vorhang
- kalt
- sagte ja … und nein …
- zu Gedanken
-
auf der Flucht.
- Und eine Tasse Tee
- vor meinen Augen
- war die einzige Schlinge
- die mich
- trauriges Tier
- an meine tödliche Kette band.
Sapo y mar
- Azul plomizo
- el mar
- tejía auroras
-
amarillas en el confín.
- Y un sapo
- sobre su voz
- crepuscular, dejaba
- caer el goterón
- metálico
-
de su habla.
- Abierto
- el infinito
- a mi derecha;
- a izquierda
- el punto matemático
- rompiendo
- en un verde
- de musgos
-
oxidados.
- Sola. Dispersa.
- Una cortina
- helada
- daba el sí … no …
- del pensamiento
-
huyente.
- Y una taza de té
- frente a mis ojos
- era el único lazo
- que me unía
- animal triste
- a mi mortal cadena.
Alfonsina Storni
Alfonsina Storni (1892-1938) schrieb Lyrik, Kolumnen, Erzählungen und Theaterstücke. Eine der wichtigsten Autorinnen Lateinamerikas vor 1939, die bekannteste Schweizerin, die nicht in einer Landessprache schrieb.Hildegard E. Keller
Germanistin, Hispanistin, langjährige Fernsehliteraturkritikerin (SRF, ORF), Schreibcoach und Stadtführerin («Kriminelles Zürich»). In ihrem Hannah-Arendt-Roman «Was wir scheinen», der auch im Tessin spielt, hat Alfonsina Storni als Lyrikerin einen Gastauftritt.Magazin für gleichgerichtete Schalter Magazin für gleichgerichtete Schalter Magazin für gleichgerichtete Schalter
Kommentar von Hildegard E. Keller
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Alfonsina Stornis Gedicht «Sapo y mar / Frosch und Meer» sprang in allerletzter Sekunde aus ihrer Werkausgabe, die ich für die Edition Maulhelden gemacht habe. Ich hatte es bereits für den Band «Ultrafantasía. Lieblingsgedichte» übersetzt, lektoriert war es auch schon, doch die ursprünglich geplante Seitenzahl war erreicht. Es blieb kein Platz mehr.
«Ultrafantasía» ist ein erfundenes Wort, mit dem Alfonsina Storni eine Erfahrung ausdrückt: als Künstlerin bringt sie etwas in die Welt, das für sie selbst so natürlich ist wie Singen und Tanzen, für ihre Zeitgenossen aber wirkt es schräg, moralisch verwerflich und sogar bedrohlich. Ein Gedicht in diesem fünften und letzten Band der Werkausgabe erzählt davon. «Ultrafantasía» enthält handverlesene Gedichte aus allen Schaffensphasen von Storni, sieben Illustrationen (auch eine mit Frosch) und ein Nachwort. In den vorangegangenen Bänden (CHICAS, CUCA, CARDO und CIMBELINA, 2020-2021) machte ich das journalistische, narrative und dramaturgische Werk erstmals auf Deutsch zugänglich.
«Sapo y mar /Frosch und Meer» stammt von 1937 und wurde zu Lebzeiten der Autorin nicht veröffentlicht. Ein Frosch, dessen morgendlicher Ruf in der Ferne hörbar wird, wird zum Ausgangspunkt einer poetischen Welt- und Selbstreflexion. Das quakende Tier und das dichtende «traurige Tier» geben einander Echo. Das Gedicht zeigt ein Ich, das schon sehr frei zwischen Himmel und Erde schwebt. Es hat sich von dichterischen Formzwängen verabschiedet, bringt die Wörter aufs Papier, wie sie grad einfallen und überlässt sich ganz der Natur. Nah das Meer und auch der Frosch, der irgendwo quakt. Vor der eigenen Nase der Morgentee und dann, am Ende, die Erinnerung, dass es noch unter Menschen ist. Das war ein Jahr vor Alfonsina Stornis Freitod. Die aus dem Tessin stammende Argentinierin Alfonsina Storni ist eine Entdeckung wert: Ihre Persönlichkeit blieb eingefroren in einem Mythos, der das Stigma des frühen Todes von eigener Hand fortbetet, und ihr Werk ging weitgehend vergessen. Diese Werkausgabe taut die wirkliche Alfonsina Storni auf, für alle, die sie lesen und ihr facettenreiches Werk kennenlernen möchten.