Streichholz

23. Dezember 2022
  • November 1826, Stockton-on-Tees, Nordostengland,
  • und John Walkers Rührstab brennt,
  • er merkt es erst, als die Zeitung
  • wie von selbst erzählt,
  • dann das Haar des Kastorhuts
  • schon Feuer fängt.

  • Man kennt es von den Katzen,
  • dass sie ihre Köpfe
  • an der unverputzten Hauswand reiben,
  • dabei schnurren, fortan
  • den Klang wie von einem aprikosengroßen
  • Drehmotor im Kehlkopf tragen.

  • Doch springt vom Kopf des Tieres
  • nichts wie dieses Flämmchen
  • hier vom körnigen, roten Scheitel
  • des Zündkopfs über
  • auf die Lokalnachrichten
  • und den Biberfilz.

  • Und nichts nimmt den Köpfchen ihr Verlangen
  • zu entflammen im Windschatten
  • einer hohlen Hand,
  • Anfang oder Ende einer Geschichte zu sein,
  • denkt Walker und notiert es
  • zwanzig Jahre später.

  • Er notiert es an den Rand jener Zeilen,
  • in denen der Schnee zwischen
  • zwei Kopenhagener Häusern nicht aufhört,
  • auf die abgebrannten Hölzer, auf das Haar, die nackten Füße
  • eines Mädchens zu fallen, das erfriert.

  • In eine Zinndose passen hundert Stück
  • zu einem Schilling und zwei Pence.
  • Er vergisst sie zu patentieren.
  • Die ersten Schwefelhölzer heißen
  • nach einem Mr. Samuel Jones:
  • Jones’s Lucifer Matches.

  • Walker wird sich eine Katze kaufen.
  • Manchmal tröstet ihn
  • ihr Phosphorzünglein auf der Hand.
  • Im Hutdach trägt er ein gesengtes Loch,
  • das bis durchs Futter geht.
  • Das merkt er nur, wenn es regnet.
geb. 1986 in Zürich, lebt in Baden (Schweiz). Er studierte Germanistik, Geschichte und skandinavische Literatur an der Universität Zürich. Heute unterrichtet er Deutsch an der Kantonsschule Baden. Garzetti schreibt Lyrik und Prosa. Zuletzt: «Mund und Amselfloh» (2018, Wolfbach).

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Hirngespinste in Phosphor

Es ist wohl fast unmöglich, zumindest mir geht es so, ein Streichholzgedicht zu lesen, ohne an das berühmteste Streichholzgedicht der Welt, Love Poem von Ron Padgett, erinnert zu werden. Es bleibt aber nicht bei dieser einen textlichen Verbindung. Die durch Streichhölzer aufgeworfenen literarischen Bezüge finden sich erstaunlich schnell. Für diejenigen, die der Schweizerischen Mundart mächtig sind, wird sich nämlich sofort eine zweite Assoziation einstellen, I han es Zündhölzli azündt von Mani Matter, ein Mundartchanson, bei dem das nicht ausgelöschte Streichholz auf dem Teppich schlussendlich in einem Weltkrieg gipfelt. Sascha Garzettis «Streichholz» reiht sich bereits mit dem Titel in diese Reihe von Streichholzwerken ein, Bezug nimmt es aber auf einen anderen Text, auf Hans Christian Andersens berühmtes Märchen «Das Mädchen mit den Schwefelhölzern». Die Bezüge im Gedicht sind dementsprechend auch am offensichtlichsten in Andersens Werk zu finden, Garzettis Gedicht bleibt wie Andersens Märchen ganz bei seiner Hauptfigur, dem Apotheker John Walker. Die Streichhölzer sind nur Vehikel für die entsponnene Geschichte, im Wesentlichen bleibt Walker (mit Ausnahme seines Hutes) – wie das Mädchen auch – von den Zündhölzern unberührt. Aber auch die beiden anderen Texte tragen eine Verbindung: Ein ebenso leiser, zärtlicher Ton wie bei Padgett, findet sich auch hier. Und wie bei Matter, bleibt das Leben vom Streichholz unverändert, die Veränderung hat im eigenen Geist, nicht in der physischen Welt stattgefunden und trotzdem tritt die Ungerechtigkeit der Menschen deutlich hervor.

Es ist vermutlich kein Wunder, hat der Zufall es so gewollt, dass Sascha Garzettis Gedicht als Weihnachtsgruss hier erscheint. Nebst den leisen Tönen, trägt es viele Wahrheiten in sich, die sich hinter einer zuckersüssen Wortfassade verbergen. Leise reiht es sich in eine Reihe von berühmten Texten ein, verweist mehr oder weniger direkt auf sie und muss sich vor ihnen keinesfalls verstecken.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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