geizige kinder auf amphetamin & weitere bestandsaufnahmen
15.
September
2023
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das klicken einer schabe die an die decke knallt
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drohungen die mich eher zufällig erreichen
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im hotel california ohne es zu wissen
- zu viel abendland verdächtig
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zu viel telepathie
- verlege bleistift verliere wimpern
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kenne den umfang meiner wohnung nicht
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aber witterung
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ein echo das nicht mehr zurückzuführen ist
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versuch eine häutung in echtzeit zu protokollieren
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im stundenzimmer für gespenster
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oder dreihundertsechzehn arten wund zu sein
- treibgut das ich auflese
- als handgepäck
Die Zeile «zu viel abendland verdächtig» ist in leicht abgewandelter Form dem Gedicht Fußnote zu Rom von Günter Eich entnommen.
studierte Literarisches Schreiben, Theater und Philosophie in Hildesheim sowie am Literaturinstitut in Biel. Sie schreibt Gedichte, Essays und Prosa und kuratiert die Lesungen im Basler Offspace «wabe». Ihr Lyrikdebüt «einsamkeit ist eine ortsbezeichnung» (Schiler & Mücke) erschien diesen Sommer.
Dieses Gedicht wurde von Das Narr kuratiert.
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Kommentar von Julia Rüegger
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Geizige kinder auf amphetamin ist in mehrfacher Hinsicht mit den Gedichten des Schriftstellers Günter Eich verbunden, die mich, trotz sehr verschiedener historischer Umstände, geprägt und inspiriert haben, seit ich mich überhaupt für Lyrik interessiere. Eine dieser Verbindungen liegt in einem direkten Zitat der Worte «Zuviel Abendland, verdächtig» aus Günter Eichs Gedicht Fußnote zu Rom – ein Credo, auf das bei Eich in der nächsten Zeile allerdings nicht die Telepathie folgt, sondern «Zuviel Welt ausgespart». Ich weiss nicht mehr, wie und warum die Abendland-Zeile in meinen Text eingegangen ist, ich schreibe zu assoziativ und ungeplant, als dass ich solche Beweggründe rekonstruieren könnte. Ich vermute aber, dass es ein intuitiver Wunsch des Versschmuggels war, ein Versuch, Günter Eich nicht nur als gedanklichen Ankerpunkt, sondern auch als O-Ton mitzuführen, als Treibgut eben. So, wie ich mir vorstelle, dass all die bewussten und unbewussten Verweise auf andere Autor:innen und Werke eine Art des intimen Gepäcks darstellen, im besten Fall Handgepäck, das man möglichst nahe bei sich und seinem Körper trägt und auch bei Sicherheitskontrollen nicht abzugeben bereit ist, selbst wenn es dafür öffentlich durchleuchtet wird.
Formal und konzeptuell gesehen ist geizige kinder auf amphetamin eine sehr direkte Referenz an Eichs Gedicht 17 Formeln, das in Form einer Liste 17 nummerierte Gedankensplitter aufführt; formelhafte, rätselhafte Mantras; manchmal auch nur ein einziges seltsames Wort wie «Fischbeinschwäche». Diese Struktur einer Liste voller einbeiniger Verse habe ich, wiederum inspiriert von Eichs bekanntem Text Inventur von 1945/46, für mich mit dem Versuch einer Bestandsaufnahme gefüllt, auch wenn dies bei geizige kinder unter sehr viel weniger existenziellen Bedingungen geschieht, als es bei Eich nach seiner Kriegsgefangenschaft der Fall war.
Was bleibt ist die Überzeugung, dass jede Zeit und jeder Ort von Heimsuchungen und Verlusten durchzogen ist und dass wichtig bleibt, zu bezeichnen, was fehlt und was noch da ist, was glaubwürdig ist und was an Glaubwürdigkeit eingebüsst hat, wobei das Zwielichtige oftmals überwiegt: Das Geräusch einer Schabe, die an die Decke knallt, bietet nicht viel Orientierung, wenn man die Wimpern verliert und den Umfang der eigenen Wohnung nicht kennt. Auch hier ist also noch «Zuviel Welt ausgespart», das Hotel California ist ebenso verdächtig wie das Abendland als Ganzes, und der Versuch, etwas «in Echtzeit zu protokollieren» scheitert fast immer. Und doch schwemmt es weiterhin Treibgut an; «treibgut das ich auflese / als handgepäck».