Müdes Lied
15.
August
2022
- Ich möchte schlafen, denn ich bin so müd,
- und so müd und wund ist mein Glück.
- Ich bin so allein – selbst mein liebstes Lied
-
ist fort und will nicht mehr zurück.
- Schlaf’ ich einmal, so träume ich auch,
- und Träume sind so wunderschön.
- Sie zaubern einen lächelnden Hauch
-
auch übers schwerste Geschehn.
- Träume tragen Vergessen mit sich
- und schillernden bunten Tand.
- Wer weiß es – vielleicht auch bannen sie mich
-
für ewig in ihr Land.
- 23.12.1941
Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942) war eine rumänische Lyrikerin. Sie starb 1942 im Zwangsarbeitslager Michailowka an Fleckfieber.
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Kommentar
Nick Lüthi
Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.
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57 Gedichte sind von Selma Meerbaum-Eisinger überliefert. «Blütenlese» hat sie die auf Einzelseiten mit Füllfederhalter niedergeschriebene Sammlung getauft. Vor ihrer Deportation ins Arbeitslager Michailowka ist es ihr noch gelungen, die Sammlung weiterzugeben, die danach über viele Stationen bis nach Israel in einen Banksafe gelangt ist. Veröffentlicht wurde sie erst 1980, dafür mit grossem Erfolg. Erlebt hat Meerbaum-Eisinger diese späte Anerkennung nicht, sie starb 1942 18-jährig ein halbes Jahr nach ihrer Deportation ins Zwangsarbeitslager.
«Müdes Lied» sticht aus Meerbaum-Eisingers Sammlung an Gedichten heraus, weil es, direkter als die meisten anderen, der darin angelegten Melancholie nachgibt. Wobei, angesichts des Zeitpunktes zu dem es entstanden ist, scheint Melancholie euphemistisch und ist nur im direkten Vergleich zu den anderen Gedichten eine sinnvolle Kategorie. Wichtiger ist hier der klar ausgelotete Metaphernraum: Schlaf, Traum, Einsamkeit.
Die Träume erlauben ein Entkommen aus der Einsamkeit und der Realität. Was zuvor noch durch Lieder erwirkt werden konnte, ist nun ausschliesslich über den Traum zugänglich. Als Vehikel des Vergessens überwinden sie den so aufgespannten Bogen. Meerbaum-Eisiniger dekliniert diesen Traumraum konsequent durch und erlaubt sich auch einfache Sprachbilder und Zuschreibungen, ohne aber dem Kitsch anheimzufallen. So verwundert es nicht, dass das gesuchte Glück ein volatiles Gut ist.
Denn, wie wir beim erneuten Lesen des Titels merken müssen, die Träume existieren nicht wirklich, sie sind, genauso wie die darin erschaffenen Vehikel des Vergessens, selbst Vehikel, erschaffen aus einem, kurz vor Weihnachten gesungenem, müden Lied.