Aus: NEUROTIKON

17. Februar 2023
  • Ich habe einen musealen Saal, ein Kabinett der Gedanken, mit Vitrinen, worin meine Sammlung in minutiös sortierter Ordnung aufbewahrt und zur neugierigen Betrachtung aufbereitet ist. Die Exponate sind wie Schuppen hauchfeiner Schichten des Glimmers, durchsichtig, ephemer, schwerelos. Nur mit speziellen Pinzetten sind sie zu greifen, denn jede Berührung kann sie zerfallen lassen, jedes Ansetzen zu einer Berührung.
1986 in einer jüdischen Familie in Moskau geboren, lebt als freier Autor und Kolumnist in Aarau. Zuletzt «Fluchten» (2022, editon mosaik).
Dieses Gedicht wurde von Nathalie Schmid kuratiert.

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Von der Zerbrechlichkeit des Bestaunten

Faktisch scheint Alexander Estis' Gedicht nicht korrekt zu sein. Welches Museum hat alle Exponate «zur neugierigen Betrachtung aufbereitet»? Welches Gedächtnis funktioniert so gut, dass es seine gedanklichen Gegenstände «in minutiös sortierter Ordnung aufbewahrt»? Das darauf aufbauende Sprachbild scheint dem Harry-Potter-Kosmos entlehnt, wo sonst lassen sich Gedanken schwerelos mit einer Pinzette (oder einem Zauberstab) herausziehen? Zerbrechlich sind sie, die Gedankenstücke, aber immerhin wohlsortiert. Doch woher kommt diese Ordnung?

Das Gedicht beantwortet keine dieser Fragen. Es bleibt unbeschrieben, was das lyrische Ich mit den Gedanken anstellen soll, sobald es sie aus dem Kabinett gezogen hat. Schweben die Gedanken danach («ephemer»? unsortiert?) im Saal, der sie bereits beheimatet? Oder zieht es sie weiter, an Orte, die sich der Ordnung und der Vollständigkeit entziehen? Weil uns die Antwort verweigert wird, bleiben wir Besuchende eines Museums, die die zugrundeliegenden Geschichten einzig anhand der Exponate erleben können. Wir erfahren eine schwebende, fragile Sammlung, deren Verwendungszweck genauso unbekannt ist, wie das Motiv der Betrachtung. Weil schlussendlich sogar unklar bleibt, ob wir Besuchende sind, oder eine Beschreibung eines Besuchs erzählt bekommen: Stehen die Exponate der Öffentlichkeit offen oder doch nur dem lyrischen Ich?

Die Zerbrechlichkeit des Betrachteten steht im Vordergrund, eine Beurteilung der Gegenstände ist erst vollständig möglich, wenn sie herausgezogen worden sind; sich aus dem Kosmos des zu Bestaunenden lösen und eine gewisse Materialität erfahren. Dadurch verändert sich zwangsläufig ihre Qualität und es bleibt eine abschliessende Frage: Ist dem Bestaunten so noch zu trauen?

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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