Wie im Traum
21.
Oktober
2022
- Zapfen von Blut (Seelen gekritzelt
- Auf Nadeln): Schicksale & Opfer-
- Büchsen aus Lagern & Zelten (Zellen)
- Von Gewissenlosen mit gewaltigen
- Schuhen über die Grenze getreten und
- Ins Gesicht.
geb. 1958, Graz, lebt in Wien. Autorin, Radiokünstlerin, Schreibpädagogin. Buchveröffentlichungen, Hörstücke, Projekte. Zuletzt «Gefeuerte Sätze» (Limbus, 2019), «Die Tiefe der Zeit» (Bibliothek der Provinz, 2021). In «Twin City-Project» (Nine-Arches Press, 2021).
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Kommentar
Nick Lüthi
Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.
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In einem einzigen Satz formuliert Petra Ganglbauers Gedicht eine Realität, die den im Titel stehenden Traum aller Grundlage entbehrt. Oder auch: Die Wirklichkeit erscheint so verzerrt, dass der vermeintliche Traum in den Raum des Hyperrealen, also in einen Raum, in dem die Realität kaum zu glauben ist, geholt wird. Dieses Furiosum zwischen Traum und Wirklichkeit bezieht seine Schlagkraft aus den fein gearbeiteten sprachlichen Doppelbödigkeiten. Die «gewaltigen Schuhe» sind sowohl sinnbildlich als Ausdruck eines überdimensionierten Gegners zu verstehen, als auch wortwörtlich als an den Füssen getragenes Material von Gewaltantuenden. Auch die «Zapfen von Blut» können wörtlich aufgefasst werden, als in Zapfen herabfallendes Blut. Als Kompositum «Blutzapfe» offenbart der Gedichteinstieg eine weitere Bedeutung, wie der Blick ins Frühneuhochdeutsche Wörterbuch zeigt; als Synonym für einen blutgierigen Menschen, Tyrannen. Die Metaphorik des Zapfens, jetzt als Tannenzapfen, wird im Gedicht durch das später aufgeworfene Bild der Nadeln weitergeführt. Auch die «Opfer-Büchsen» oder die gewaltsame Verteidigung von Grenzen, zeigen weitere Doppelbödigkeiten.
Ein Gedicht, das «Wie im Traum» heisst, muss mit der Realität genauso spielen, wie es sich ihr nicht vollständig offenbaren darf. Wer träumt, verzerrt die Realität durch die eigenen Augen (womit wir wieder bei den Zapfen wären) und die mächtigsten Träumer gestalten sich darin die Wirklichkeit nach eigenem Ermessen. Und wenn uns die Wirklichkeit wie im Traum erscheint, stellt sich die Frage, ob hier jemand die Wirklichkeit nach einem Gutdünken gestaltet und zurechtzurrt, oder ob wir nicht doch träumen. Das «Wie» offenbart dabei aber leider, dass Letzteres eher nicht der Fall sein dürfte und sich die Realität gerade in ihrer ganzen verwirrenden, doppelbödigen Grausamkeit vor den eigenen Augen entfaltet.