die Gehirnerschütterung
28.
Oktober
2022
- der Mann schaute nicht einmal auf schlug nur zu
- er zielte nicht das war nicht nötig ich war da drinnen
- nun Schleier und Blut 1 Gehirnerschütterung Kirschblüten unter
- der Kopfhaut warme Knospen wie Augen die aufklappten beim Aufprall
- die flüssigen Herzen zerreiben am Knochen es wird schwer ich bin weg
- aus der Blutlache rette ich einen Gedanken nur : er zielt nicht denn das ist
- nicht nötig ich bin da unten mein Mund mit Blut er löst sich wie eine Frucht
- und er platzt das stört mich die Sätze fallen Rippen Zähne das ist nötig so oder so
- und nun kommt ein Bekenntnis mein Gott ich lege es zwischen die Lippen wie man
- eine Rose in ein offenes Grab sinken lässt trage es in der dunklen Erde es liegt mitten in
- meinem Gesicht : dort heisst es : dieser Mann hier ja er tritt mich und ich gehe nicht –
geb. 1997, Studium der Anglistik und Germanistik in Bern. Mitglied & Mitarbeit bei Lesungen des Schweizer Schreibnetzwerkes femscript. Gewinnerin des 29. open mikes für junge Literatur in Berlin (2021).
Magazin für Wortklaubereien Magazin für Wortklaubereien Magazin für Wortklaubereien
Kommentar
Nick Lüthi
Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.
Magazin für Dialog Magazin für Alltag Magazin für Dialog
Ein Titel, so lapidar wie ein medizinischer Befund. Ein Befund aber, der nur durch massive Gewalteinwirkung zustande kommen kann, so massive Gewalt, dass das Hirn direkt an die Schädeldecke stösst. Jetzt sagt der Befund respektive der Titel selbst aber noch nichts darüber aus, wie es zu dieser Gewalteinwirkung gekommen ist. Die Geschichte dazu liefert Eva-Maria Dütschs Gedicht nach: Es ist ein Akt häuslicher Gewalt. «der Mann» ist in seiner Gewaltanwendung so stupide, er muss nicht einmal zielen, sprich- wie wortwörtlich trifft er von oben herab sein Opfer sowieso. Diese Feststellung des Nichtzielens ist der einzige klare Gedanke, der sich im Gehirn des lyrischen Ichs noch fassen lässt. Dementsprechend wird er auch zweimal formuliert, zuerst als Erkenntnis, danach als Faktum der Beziehung zwischen Mann und lyrischem Ich. Das lyrische Ich ist denn auch so von der Situation gezeichnet, dass es im sich entfaltenden Gedankenstrom zum Schluss kommt, dass die Situation genauso unausweichlich ist, wie die durch die Gewalt herbeigeführten Wunden.
In gewisser Weise könnte man Eva-Maria Dütschs Gedicht vorwerfen, dass es eine Gewalterfahrung ästhetisiert. Die Gewalt mit Bildern von «Kirschblüten» oder «warme[n] Knospen» untermalt und aus dieser Situation einen poetischen Text formt. Es wäre nicht nur ein unfairer Vorwurf, es wäre auch einer, der aus einer ungenauen Lesart erwächst. Das Gedicht ist in seiner Perspektive konsequent, es wird nur aus Sicht des lyrischen Ichs erzählt. Die Bilder und Metaphern sind denn auch keine Ästhetisierungen, sondern die ersten und direktesten Assoziationen, die im Gehirn des lyrischen Ich innerhalb dieser Situation häuslicher Gewalt entstehen. Eva-Maria Dütsch erzählt diese Geschichte furios und schliesst sie mit einem Bekenntnis ab, das im Rahmen des Gedankenstroms nur konsequent erscheint; gehen ist keine Option und die eigens empfundene Schwäche ist nun für alle – direkt im eigenen Gesicht – sichtbar. Konsequenterweise liefert das Gedicht keine Auflösung, aber es legt sie im abschliessenden Perspektivenwechsel an: Das lyrische Ich anerkennt da zum ersten Mal die Umwelt, die Anderen und dass sich Befund und Geschichte untrennbar miteinander verbunden haben.