Lass den Regen

29. Mai 2025

Lass den Regen

讓雨

  • Lass den Mond ein wenig schwitzen
  • Lass das tiefe Zirpen der Zikaden die Seiten des Buches auffächern
  • Lass Tropfen auf Flüssiges tropfen
  • Lass die Wand lass das Tabu
  • Lass ihn, den erstarrten Riss,
  • der sich bewegt und von selbst heilt
  • Lass den einsamen Stift
  • Lass die herabfallenden Blätter sich ausbreiten
  • Lass uns erinnern an das Aufwallen des Sternenstaubs
  • Lass das Ausradieren das Korrigieren lass es liegen
  • Spüre es in deinen Fühlern lass es geschehen
  • Lass die Saiten der Zither auffliegen die Nacht Wellen schlagen
  • Lass die Treppe lass die Tür sich öffnen und schließen lass es rufen
  • Eine Kamelie kann kein Paradies sein
  • Dein Gesicht ist kein Spiegel
  • Lass den Blues zum Fenster herein
  • Lass das Zittern der Flamme lass es sein

  • Aus: Chen Yuhong: 之間 [Zhijian / Dazwischen], Hong Feng Publishing, 2011

Wasserschlange

水·蛇

  • Noch immer sickert es herein
  • ruhig und still ist das Wasser, ohne Harm
  • windet sich wie eine Schlange
  • schlingelt um deine Füsse
  • wie unbestimmtes Licht
  • fließt unter der Tür herein
  • dringt durch die Fensterritzen
  • im blaudämmmernden Morgen
  • kein Schloss hält es auf
  • ein Schwanz
  • windet sich
  • der Schwanz einer Schlange
  • schlüpft langsam herein und du
  • willst sie nicht sehen nicht erkennen

  • wenige Sekunden nur
  • sind ein ganzes Leben
  • es fliesst über deine Fusssohlen
  • überschwemmt dein Herz es ist zu spät.
  • Im Platzregen zusehen
  • wie es hereinsickert unbestimmt
  • das ruhige Licht dieses sich windende Wasser
  • 一 wie eine
  • Schlange
  • friedlich fließt es, absichtslos
  • S
  • ch
  • lan
  • ge

  • durch das Fenster
  • aus der Seele fließt es
  • aus jedem Ritz
  • windet sich, sickert ein.

  • Aus: Chen Yuhong: 魅[Mei / Dämonen], Aquarius Publishing, 2007

Chen Yuhong

geboren in Kaohsiung, ist Lyrikerin und Übersetzerin aus dem Englischen - u.a. Wilde Iris von Louise Glück. Bislang hat sie acht Gedichtbände veröffentlicht, ihre Werke wurden u.a. ins Französische, Dänische und Schwedische übersetzt. Zudem erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen für ihre Poesie im In- und Ausland.

Alice Grünfelder

Schriftstellerin (u.a. Wolken über Taiwan, Jahrhundertsommer), auch Übersetzerin von moderner Literatur aus Tibet und Gedichten aus Taiwan, 2024 erschien bei Hochroth Leipzig z.B. der Band Küsten mit den Meeresgedichten von Tsai Wan-Shuen.
Dieses Gedicht wurde von Alice Grünfelder übersetzt und kuratiert. Es ist Teil des Taiwan Specials auf poesie.xyz, im Rahmen dessen Alice Grünfelder Einblicke in das lyrische Schaffen Taiwans gibt.

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Lass den Regen

Das Gedicht ist ein kleines Gebet, eine sanfte Selbstbeschwörung, Meditation: «Lass…, lass…, lass…,» beginnt fast jede Zeile. Eine lange Liste ist das von, ja was? - Geboten, etwas nicht zu tun oder genau umgekehrt – Aufforderungen es zu tun? Das Deutsche gibt beiden Deutungen Raum. Lass es bleiben, lass den Mond einfach nur Erdtrabant sein, stör ihn nicht in seiner Umlaufbahn, ignorier ihn einfach! Und dann wiederum das Gegenteil: Lass es Mond werden, erwecke ihn ins Sein - Am ersten Tag, da ward es Mond! Und tatsächlich, glaube ich, ist es eine kleine Schöpfungsgeschichte, die da erzählt wird, ein Ars Poetica-Gedicht übers Poesieschreiben selber: Spreche den Mond ins Sein! Die Hinweise für meine Deutung lese ich auf, wie loses Papier vom Boden: Da sind die Seiten eines Buchs, ist der einsame Stift, sind die herabfallenden Blätter. Da ist die Verheißung: Ein Gedicht schreibt sich selbst, wo nur das Wollen aufgegeben wird, wo das lyrische ich (oder du?) sich dem Moment ergibt, nur noch sitzt und sieht, dem Rascheln lauscht und dem Blues. Lass es Poesie werden, es werde Poesie! Und in dem gar nicht unwahrscheinlichen Fall, dass ich als von Kindheit an mit Christlicher Kultur und der Deutschen Sprache Umgebene mit meinem Ins-Sein-und-Ins-Gedicht-Sprechen komplett daneben liege, und das «Lassen» ist nur im Sinne von «ablassen» gemeint, dann tut doch auch dieses Ablassen etwas sehr Raffiniertes: Bevor nämlich der Vers mir gebietet oder zumindest rät, mich nicht um den schwitzenden Mond zu kümmern, habe ich im Lebtag nicht an den Himmelskörper als einen in Sommernächten schwitzenden gedacht und doch stimmt dieses Bild vollkommen, genau wie auch die anderen ungewöhnlichen Sommernachtkonstellationen und Sternenstäube, die aufgeführt und aufgerührt werden, und ich kann das aufs Flüssige Tropfende, die blätternden Zikaden und die sich öffnende Treppe jetzt erst recht nicht mehr loslassen und vergessen! Und schon hat sich die Schöpfungsgeschichte auf paradoxe Weise wieder eingeschlichen.

Wasserschlange

Schon im lapidaren Titel, dieser einfachen Tierbezeichnung «Wasserschlange» schwingt eine latente Bedrohung mit, wenn man wie ich keine Schlangen mag, jedenfalls, und sich nicht gut genug auskennt, um zu wissen: Ist diese Spezies gefährlich? Ist möglicherweise auch kein echtes, ist ein Symboltier gemeint, ein astrologisches Zeichen, ein spirit animal? Ich weiß so wenig von Chinesischer Kultur… muss mich auf den Text einlassen und versuchen zu verstehen. Schon gleich im zweiten Vers wird mir so etwas wie Ungefährlichkeit versichert «ohne Harm», wenn sich das auch vordergründig erst einmal auf das ins Heim oder Haus hereinsickernde Wasser bezieht, nicht auf eine Schlange, aber gleich im darauffolgenden Vers wird das Wasser bereits mit dem Tier in Verbindung gebracht: Es «windet sich wie eine Schlange» und gleich darauf windet sich tatsächliche eine Schlange durch Fensterritzen und Türspalten in den Text, schlängelt sich dort ganz sichtbar, Schwarz auf Weiß, auf dem Blatt. Der schnurgerade Vers selbst wird zur dreizeiligen Schlange um das Scharnierwort «windet sich», wird Bild.

Beide also, Schlange und Wasser dringen ein in dieses Haus und das lyrische Du will lieber wegsehen, die leise Sintflut, die stille Verwandlung nicht wahrnehmen. Da leuchtet ein drittes Element in dieses rätselhafte Kammerspiel: «das ruhige Licht dieses sich windende Wasser/ - wie eine/ Schlange». Licht also wie Wasser wie Schlange: ein mystisches Wesen, diese Wasserschlange. Ein Wandler ist sie, Shapeshifter, auch: Seelenzustand «aus der Seele fließt es/ aus jedem Ritz». Die Wasserschlange als Wort beginnt sich der Logik zusammengesetzter Nomen (im Deutschen) zu widersetzen, die ja immer eine Bedeutungshierarchie mitschreibt. Eine gewöhnliche Wasserschlange ist eine Schlange, die im Wasser lebt. Bei Chen Yuhongs Wasserschlange verschwimmt diese Eindeutigkeit, sie ist beides zu gleichen Teilen, beides zur gleichen Zeit oder immer im Dazwischen.

Sie ist ein unabwendbares, stilles Ende von etwas und die Ankündigung einer neuen Form. Ein Sterben und ein Neuentstehen. Eine Metamorphose. Zum Ende des Gedichts liegt sie neuerlich wieder als Form, als neues Zeichen zwischen den Zeilen.

16. September 2025 |

Christine Zureich

Geboren in New York, aufgewachsen am Bodensee. Zwischen zwei Sprachen. Nach Stationen in Tübingen, Uppsala, Frankfurt, Saarbrücken, München heute als Autorin, Dozentin, Künstlerin wieder in Konstanz, noch immer mit Worten spielend. Mitunter Lyrik vermöbelnd.

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