Sieben Septillionen Jahre

22. August 2022
  • Sieben Septillionen Jahre
  • zählte ich die Meilensteine am Rande der Milchstrasse.

  • Sie endeten nicht.

  • Myriaden Aeonen
  • versank ich in die Wunder eines einzigen Thautröpfchens.

  • Es erschlossen sich immer neue.

  • Mein Herz erzitterte!

  • Selig ins Moos
  • streckte ich mich und wurde Erde.

  • Jetzt ranken Brombeeren
  • über mir,
  • auf einem sich wiegenden Schlehdornzweig
  • zwitschert ein Rotkehlchen.

  • Aus meiner Brust
  • springt fröhlich ein Quell,
  • aus meinem Schädel
  • wachsen Blumen.
Arno Holz (1863-1929) war ein deutscher Lyriker und Dramatiker. Er gilt als wichtiger Vertreter des Impressionismus und des Naturalismus.

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Kommentar

«Sieben ...» stammt aus der Urfassung des Phantasus, dem bedeutendsten lyrischen Werk Arno Holz'. Diese erste Fassung von 1899 wurde von Holz im Laufe der Jahre radikal erweitert und umgearbeitet und es existieren mindestens zwei weitere, von Holz angefertigte Fassungen des Phantasus (wobei es auch schon eine Vorfassung in einem vorausgehenden Band gab). Holz hat das Weiter- und Umarbeiten seiner Gedichte als zentralen Aspekt seiner künstlerischen Praxis verstanden.

Die Erstversion der Gedichte ist, im Vergleich zu den späteren Fassungen, sowohl in der Länge noch fassbar als auch inhaltlich zugänglich. Was in späteren Versionen durch einen Schwall von Adjektiven und Komposita erschwert wird. In der Erstfassung scheint die Frische, der nie abgelegte Wortzauber dieser Gedichte dafür etwas weniger durch. Man muss sich beim Lesen von Holz' Gedichten immer wieder vergegenwärtigen, dass die meisten deutschsprachigen Dichter:innen noch gut 40–50 Jahre nach Erscheinen des Phantasus weiterhin in gebundenen, gereimten Formen geschrieben haben.

Im vorliegenden Fall beschreibt Holz einen Zerfallsprozess, etwas, das sich in jüngerer Vergangenheit beispielsweise im ersten Band von Eva Maria Leuenberger «dekarnation», als zentrales Motiv wieder beobachten liess. Der Zerfall ist im Fall von Holz aber kein bedauernswerter, das sich ins Moos legende Lyrische-Ich geniesst diesen Prozess, der die zu Beginn angestossene Beobachtung zeitlich unbeschränkt fortfahren lässt.

Die Natur, respektive deren Beobachtung bildet zwar den Ausgangspunkt, die Beobachtung ist aber insofern unbefriedigend, als sie sich als unerschöpflicher Quell erweist, der zwar in seinen Eckdaten zählbar bleibt, aber in unendlicher Folge fortbesteht. Erst die Umkehrung der Beobachtung ins wortwörtliche eigene Erleben, also in die Naturwerdung, erlaubt schlussendlich einen Blick, der sich um die Zählbarkeit der Dinge nicht mehr kümmern muss und die Natur in all ihren Möglichkeiten erfahrbar macht. Eine erstaunlich moderne poetologische Haltung.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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