Die Farbe Weiss

Svenja Herrmann
1. Oktober 2024

I

  • In dem Blick des Kindes
  • blitzt eine Quelle auf
  • sein Fahrradfahren wie ein Wasserlauf
  • neben mir mein Netz
  • löchrig
  • weiss
  • ich will es neu verknoten
  • festeres Garn verwenden
  • es auswerfen
  • in diese Quelle
  • Sprache fangen
  • für alles, was stumm
  • stumpf
  • vergessen ist
  • die Zeit tropft längst

II

  • Ein Schmetterling
  • zittrig weisses Band
  • es wird zu Tau
  • zu festem Tuch
  • weiss halte ich es hoch
  • gehe mit Menschen
  • höre die Rufe nach Erfindern gegen Kriege
  • das Tuch weiss
  • in den Händen
  • in der Sprache
  • gehe mit
  • höre Rufe
  • weiss in der Sprache
  • und ein Flügelschlag
  • der alles verändert

III

  • Was nützt
  • ein Netz frischgeknüpft
  • was
  • ein weisses Tuch
  • in Kriegszeiten
  • was
  • das Wissen der Alten
  • Geschichten vom Frieden
  • im Krieg
  • ich ziehe an Land verschlammte Sprache
  • mit Bürste und Tuch reinige ich sie
  • weiss
geb. 1973, schreibt Lyrik, Kinderbücher und ist Co-Herausgeberin von zwei Anthologien zu den Menschenrechten. Sie lebt und arbeitet als Begabungsförderin und Lerntherapeutin in Zürich (Schreibstrom). Zuletzt «Die Ankunft der Bäume» (2018, Wolfbach) und «Wolfskinder» (2020, Nordsüd).

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fluide & zaghaft

Maria Marggraf
24. September 2024
  • nimm mir eine grenze
  • versenke sie
  • tauche ein in das wasser
  • finde:
  • flussmäander
  • fluten | ebben
  • fluide & zaghaft
  • ein wir

  • vielleicht
  • dass es möglich ist
  • sich_artenübergreifend
  • die hände zu reichen
  • oder andere formen
  • von flossen | extremitäten
  • vielleicht
  • weniger brückenpfeiler
  • sondern waten im schlamm

  • ich kann
  • wenn die dürre kommt
  • ganz hinübergehen
  • treffen wir uns
  • bei den buhnen
  • vielleicht
  • dass es möglich ist
  • eine schuld abzutragen
  • wie der fluss_sedimente
geb. 1991, lebt in Basel. Produktionsleiterin des Lyrikfestivals Basel und literarische Stadtführerin. Sie arbeitet gerne gattungsübergreifend, entwickelte u.a. für die Zentrale für Umweltausstellungen das Insektenorakel. 2022 erschien ihr Debüt «am morgen der schildkrötenpanzer» (bübül Verlag). Der Text «Invasive Arten» erhielt einen Förderpreis der Wuppertaler Literatur Biennale 2024.

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Drehungen

Eline Menke
17. September 2024
  • Flügel bäumen sich auf
  • im Wind, drücken Schatten

  • in die Fugen der Scheunen.
  • Leere Schneckenhäuser

  • in Hecken verfangen, so
  • oder so, bleiben sie hängen

  • im Traum der Stare und
  • Drosseln. Ein Wanderfalke

  • zieht seinen Sturzflug
  • zurück, segelt weiter.

  • Die Ruhe ist umstellt.
  • Eichen ergeben sich.

  • Durch die Adern der
  • Ahnen schießt Strom.
lebt in Rheda-Wiedenbrück, Studium der Slavistik, Germanistik, Sozialwissenschaften. Veröffentlichungen in Literaturmagazinen wie DAS GEDICHT, Dichtungsring, Die sentimentale Eiche, eXperimenta, Tentakel, Poesiealbum neu und in zahlreichen Anthologien. Zuletzt: «Die Luft trägt blau» (Poesie 21, 2023). Sie arbeitet als Journalistin.

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schweissfüsse sind gar nicht so schlimm wie alle immer denken

Valérie Hug
10. September 2024
  • auf der mauer sitzt mein po
  • die haut reibt am stein ameisen bilden
  • eine strasse vor mir ein
  • bier halbleer und der mond scheint
  • hell in mein handy tippe ich
  • zeilen wie unsere zigaretten löcher
  • in unsere herzen brannten obwohl
  • der aschenbecher immer mit dabei
  • war ameisenstrasse die wade
  • hinab in meine adiletten wo
  • bereits ein film zu tropfen beginnt und
  • hinter meinen augen der abspann
  • schon lange im loop flimmert die
  • strassenlaterne auf mich herab meine
  • schweissigen füsse oder einfach
  • tränen aus vergangenen sommern
  • für immer festgehalten in
  • der sohle und eigentlich sind
  • schweissfüsse gar nicht so
  • schlimm wie alle immer denken
geb. 1993 in St. Gallen, hat u.a. Populäre Kulturen und Kulturpublizistik in Zürich studiert. Schreibt Prosa- und Performancetexte, manchmal auch Gedichte, manchmal auch im Kollektiv. Daneben schreibt sie auch immer wieder kulturjournalistisch und beteiligt sich bei diversen Projekten und Festivals. Lebt und schreibt in Zürich.

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außerferner

Clemens Braun
3. September 2024
  • noch von übersee
  • gesprochen rollen wir
  • auf flussbettlaken

  • retour a reutte, hat sie gesagt:
  • die landschaft wird
  • im höchsten grade unbewußt

  • was der moosbruch
  • schreibt, nicht ewigkeits-
  • verdächtig archivalisieren

  • statt es ins zugehörige
  • versenken: an blinkendem
  • geröll vergehen, sich
  • landvermessen
geb. 1995 in Wien, wo er Vergleichende Literaturwissenschaft und Austrian Studies studiert hat. Zahlreiche Veröffentlichungen von deutsch- und englischsprachigen Texten, zuletzt im Jahrbuch der Lyrik 2024/25 (Schöffling). Im Zweifelsfall findet man ihn im Kino.

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Ernte, zeitgemäß

Stefan Wirner
27. August 2024
  • Kalter, blauer Morgen
  • in den Schützengräben
  • dampft der Kaffee
  • auf dem Hügel
  • patrouillieren die Tschekas
  • die Städte liegen da wie
  • ranziges Brot

  • Schneegriesel aus dem Osten
  • oder sind‘s Granaten
  • wir kennen 50 Wörter für
  • Sieg

  • Hoch die Hände
  • die Säcke sind eng
  • die Köpfe bleiben liegen
  • wie Kohl im Dezember
Autor und Journalist. Er stammt aus Bayern und lebt seit 1990 in Berlin. Im Verbrecherverlag hat er mehrere Bücher veröffentlicht. Zuletzt erschien der Lyrikband «Die Kunst zu fallen» in der edition offenes feld. Im Herbst 2022 beteiligte er sich an einer Ausstellung für die ukrainische Künstlerin Olesya Dzhuraeva in Berlin.

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[ ]

Stephan Tikatsch
20. August 2024
  • Im unheimlichen Tal
  • Plötzlich geschrumpft
  • Alice antwortet nicht
  • Spalt – beachtet
  • Saugt mich zum Sturz
  • Träume nicht mehr
  • Bin verzerrt
  • Fenster gehen auf
  • Ihr Öffnen spricht gesperrt
  • Wissen fliegt vorbei
  • Dabei rollt mein Aug zum Blick
  • Nicht ehrlich sagt Endfantast
  • Steht wieder auf – vergangen
  • Im heimlichen Heute
  • Die Meinung eine Flut
  • Ebbemix beim Feuer
  • Nulltage – vermutet wird
  • Verwundbarkeit
geb. 1974 in Wien. Dichtkunst, Musik, Malerei, Fotografie u.v.m. Veröffentlicht in europäischen Literaturzeitungen und Anthologien. Gründet 2017 die Literaturzeitung SYLTSE.

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tanzen (2023)

Gina Bucher
6. August 2024
  • auf ungeschliffenem marmor
  • die internazionale tanzen
  • für die streikenden florentiner in ihrer fabrik
  • bis alte verwachsene böden zittern
  • roter sandstein von der fassade blättert
  • die nubische sklavin vom sockel stürzt
  • und das richtergewand über ihre nackten brüste legt
geb. 1978. Lebt und arbeitet in Zürich. Zuletzt «Ich trug das grüne Kleid, der Rest war Schicksal» (Piper, 2016) und «Der Fehler, der mein Leben veränderte» (Piper, 2018). Unterrichtet an der F+F Zürich und ist Schreibtrainerin am Jungen Literaturlabor JULL.

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grabbeben

Sandra Klose
30. Juli 2024
  • verhauche meinen atem, stockend
  • wie hochhaustief rief mich eine seele an,
  • teilnehmer nicht erreichbar.

  • leere stühle hinter deiner stirn
  • kinoschlüssel fallen inzwischen rillen
  • sich deine gedanken und stehen auf,
  • applaudieren vielleicht
  • weil die sonne schreit.

  • es ist etwas übrig vom vortag,
  • wetterfeste plastik steht auf einem moossockel,
  • der park schließt spät,
  • unter flügeln schlummern
  • graue grade der lieblosigkeit.

  • blumen, hingeworfen,
  • achtlos hinterlassener müll keimt,
  • der morgen wartet auf deinen zug.
geb. 1994, wohnt in Offenbach am Main. Sie schreibt als Schmerzhalter, Liebesverwalter und Versagensinhaber vom Leben und Leiden. Ein Millenial am Rande des Wahnsinns. Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften. Zuletzt «Hotel Rhizom» (parasitenpresse).

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So früh schon so spät

Helmut Blepp
23. Juli 2024
  • Ich rieche den Frühling wieder
  • er ist älter geworden
  • blasser im Licht
  • mit Stunden ohne Takt

  • Seine Wasser säuseln nur noch
  • ich kann am Ufer liegen
  • Vogelgesänge auf der kribbelnden Haut
  • heimwärts weht linde Erinnerung

  • Der Kompost vom letzten Herbst
  • wärmt noch die Kröten
  • schlafende Erde unter mir
  • und Abschied über allem
geb. 1959 in Mannheim, selbstständiger Trainer & Berater (Arbeitsrecht); lebt in Lampertheim: vier Lyrikbände, zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Magazinen.

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Indem wir uns ineinander verliebten

Stan Lafleur
9. Juli 2024
  • Für dich gründete ich die Gesellschaft
  • für Himmel, Erde und das schöne grausame Meer

  • Dort gingen wir zielgerichtet ein und aus
  • ohne uns jemals zurecht zu finden

  • Salzige Erinnerungen an deine mehrmundigen Küsse
  • im Hochgebirge meines Körpers

  • Meine Träume von dir verfestigen sich
  • zu Standbildern ohne jede Bedeutung

  • Fliegen ersticken seither im Staub
  • meiner Stube

  • Und mein Herz wehrt alle Reimversuche ab
geboren auf Höhe Rheinkilometer 354, lebt auf Höhe Rheinkilometer 693. Sein Werk umfasst aktuell 17 Einzeltitel, sechs Koproduktionen, mehrere Bühnenstücke und Radio-Hörspiele sowie zahllose Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitschriften und sonstigen Medien. Seine Texte wurden mehrfach ausgezeichnet, vertont, verfilmt und in ein gutes Dutzend Sprachen übersetzt.

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zimmermanndinner

Vy Vincent
2. Juli 2024
  • heizungsritzen schlürft er
  • wie jakobsmuscheln aus
  • erkrankt an zitternetzen staub &
  • stellt in rechnung dann
  • zwei lungenflügel

  • bettbezug durst schluckt er
  • entschuppt sich wie dorade
  • bis dunkler ansatz nass zerkratzt
  • in rechnung steht
  • verstoß
  • motelhygieneregeln
geb. 2002, schreibt absurd fiktiv. ihre texte haben u.a. beim 37. treffen junger autor*innen und theo 2023 gewonnen. sie beschäftigt sich gern mit handwäsche, der dicke von bleistiftspitzen und taiyaki.

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kurzer halt am straßenrand

Wolfgang Butt
25. Juni 2024
  • psst behalt’s für dich wenn
  • dir die tränen kommen auf der
  • gewundenen straße zwischen
  • sonnenblumenfeldern bei
  • flirrender hitze und chris reas
  • still holding on weil du mal wieder
  • nicht weißt wohin mit dir
  • sentimentaler esel halt an heul dich aus
  • auch heute wird deine richtungslose
  • dankbarkeit keinen abnehmer finden
  • lass die luft aus deinem blauen ballon
  • hast du nicht schon im ersten jahr englisch gelernt
  • you can‘t have the cake and eat it
  • und du kennst das prozedere
  • der spielverderber vom dienst wird
  • sich pflichtgemäß melden mit seiner
  • miesmacherei die alles durchdringt
  • dem faktencheck der vor nichts haltmacht
  • selbst deine hehren momente hinterfragt
  • dass dich die scham befällt mensch zu sein
  • und diesen ort nicht so zu hinterlassen
  • wie du ihn vorfandst bei deinem auftritt
  • zu neandertalers zeiten trauerst
  • um die bäume blumen gräser die du
  • zertrittst im besten einvernehmen mit dir
  • selbst die schmetterlinge hummeln die
  • an deiner windschutzscheibe jäh
  • ihr leben geben für dein weiterkommen
  • oder bemitleidest du dich selbst weil du
  • nicht weißt wohin mit deinen füßen unfähig
  • engelgleich zu schweben aber das wusstest du doch
  • weichei du dass wo gehobelt wird da lass dich
  • ruhig nieder denn was nicht passt wird
  • passend gemacht und niemand
  • hält die späne die da fallen unendlich
  • sanft in seinen händen aber haben wir
  • nicht laubbläser im angebot buschfräsen
  • chemikalien die unsere erträge steigern
  • nicht zu vergessen die rücknahmegarantie
  • von altgeräten zur fachgerechten entsorgung
  • abseits der kreuzfahrerrouten oder dieser
  • landstraße wenig befahren geheimtipp
  • zwischen weinbergen sonnenblumenfeldern
  • und während du noch am straßenrand stehst
  • dir die augen reibst tief durchatmest
  • bevor du weiterfährst in deinem geliebten
  • vierzig jahre zurückgebliebenen lancia hpe
  • hat chris rea den ton gewechselt singt
  • jetzt sein paradestück the road to hell
geb. 1937 in Wuppertal. Bis 2000 ambulanter Hochschullehrer in Skandinavistik, danach Übersetzer aus den nordischen Sprachen. Lebt in Fontanes, Dept. du Lot, Frankreich. Schreibt Gedichte und Kurzprosa.

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short message ohne service

Walter L. Buder
18. Juni 2024
  • mein gefährt ist ungewiss
  • blossfüssig auf rasierklingen
  • über grenzen, eingeritzt
  • ein name blutverkrustet
  • mein pass: die wunde, unverbunden
  • aufgebrochen
  • bin ich du, mein ticket, nicht
  • zu entziffern, ein nummernloses konto
  • oder ein schwarzer schlagstock
  • ist mein drittes standbein
  • ausgelutscht und angespuckt: ankomme
  • ankomme
  • bald
geb. 1948. vater, ehemann. zuerst fabrik- und später pastoralarbeiter. jetzt pensionist. lese- und schreibarbeiter immer schon. 3 gedichtbücher.

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Träum was Schönes

Miro Pavicic
11. Juni 2024
  • Träum was Schönes. Von sieben silbernen Seilbahnen. Sechs Süchtigen auf der Suche nach Sahnebonbons und siebzig Schafen singend an einem See. Von Seifenblasen, Saftschorlen, Süssigkeiten und frühen Samstagabenden im Sommer.

  • Träum was Schönes. Vielleicht von Veilchen, vielen Vögeln, von Vegetation und veganen Vegtables. Von Vampiren aus Videoaufnahmen. Von Vergessen und Vergeben, von Verlosungen und Verlobungen.

  • Träum was Schönes. Von Hunden und Hexen, von Heidelbeeren und Heu, von Hitzewellen und Himbeereis. Hervorragenden Häusern, Hirsebrei und Heizungen. Himmel, Horrorfilmen und Heimat. Und von Herzensangelegenheiten, natürlich.

Schüler, 17 Jahre jung, sprunghaft und Poet. Am liebsten schreibt er normalerweise auf Englisch, in der Bahn und immer inspiriert vom Alltag.

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wir bleiben wunden bis wir überwunden werden

Martin Piekar
14. Mai 2024
  • seit 5:31:59 uhr liege ich wach & google mich

  • & wer mich anklickt das bin ich nicht

  • noch du, noch persönlich

  • brennt der search-button, verrät

  • dass ich um 08:13:29 uhr nach mir suche

  • aber kann es 08:13:29 uhr sein

  • für einen tee, für ein liebesgedicht, für eine handvoll asche

  • ich bin wunde aus wunden ausgebrochen

  • im index des lebens kommt niemand zu spät

  • & doch habe ich immer das gefühl, google

  • ich wäre nie rechtzeitig aufgeweckt

  • verstehst du, bildschirme & leichen sind spiegel

  • du kriegst die vergangenheit nicht aus den körpern

  • begriffen als ich in dir gesucht hab

  • wie in einem leichnam, verstehst du, google?

  • ich frage leichname nie, ob ich pünktlich bin

  • aber ich weiß, dass wir nicht wissen, was noch kommt

  • ich kriege vielleicht brot, eine leidenschaft & die vergangenheit

  • der zukunft, sie beginnt um 08:13:31 uhr

  • wir sind alle wunden auf dem weg nach hause

Dieses Gedicht erschien ursprünglich im Gedichtband «livestream & leichen» von Martin Piekar.

geb. 1990, studierte Philosophie und Geschichte auf Lehramt, arbeitet Lyriker, Literaturvermittler und Lehrer. Sein dritter Gedichtband «livestream & leichen» erschien 2023 im Verlagshaus Berlin. Er lebt von Frankfurt am Main aus, hört viel Musik und denkt über das Gesagte nach, erstmal egal, von wem es gesagt wurde.

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dass auf der zunge das wort kraft

Tanja Schwarz
7. Mai 2024
  • dass mein ganzes glück am morgen
  • eine blaue tasse mit meinem namen
  • und kaffee, mein ganzes glück
  • während draussen die welt
  • sich weiterdrehte und
  • jede minute eine art
  • für immer verschwand

  • dass in dieser kleinen halbkugel
  • auf der mein haar ausdünnt
  • die wörter wohnen und nicht
  • herauskommen

  • dass es mich schüttelt vor –

  • dass mein kopf so schwer
  • dass ein dutzend kräftiger männer
  • ihn nicht hochheben könnten

  • dass die natur immer noch so tut
  • wie wenn nichts wäre
  • dass alles schön wird
  • wenn man es nur lange genug anschaut

  • darin liegt die erkenntnis
  • und schläft

  • dass auf der zunge das wort sehnsucht
  • ich meine: sich die brust aufreissen wie
  • ein falke der seine jungen füttert

  • dass dein gesicht ein gestrüpp
  • wo jedes du ein ast ist
  • an dem ich hänge

  • dass auf der zunge das wort leicht
  • dass ich so schnell einschlafe wie
  • ein stein ins wasser fällt

  • vielleicht, dass ein pferd noch kommt
  • und uns wegträgt
  • vielleicht, dass ein bart uns entstellt
  • oder der himmel sich schliesst und
  • wir ein haus bauen

  • dass alles was tut als
  • hätten wir es verloren
  • sich heimlich sammelt und
  • ordnet zu einem zimmer

  • du denk mit mir

  • vielleicht, dass ein satz
  • noch zurückkehrt
  • in den mund
  • lass ihn offen

  • dass auf der zunge das wort kraft

  • dass mein ganzes glück am morgen
  • eine blaue tasse mit meinem namen
  • und kaffee, mein ganzes glück
  • während draussen die welt
  • sich weiterdrehte und
  • jede minute eine art
  • für immer verschwand
geb. 1987, arbeitet schreibend und zeichnend an den Schnittstellen von Philosophie, Literatur und (Lebens)Kunst. Sie würde gerne verstehen, was es bedeutet, hier zu sein und ich zu sagen. Sie hat eine Kunstschule absolviert und es kommt, was in ihr ist, nicht heraus. Sie lebt ihn Biel.

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Monstera

Sarah Altenaichinger
30. April 2024
  • Wie en Hund lueg ich us em Fänschter
  • gseh öppis
  • es bewegt sich
  • Wie es Backbläch ligg ich uf em Tisch
  • mach Ängelbewegige
  • und rühr bar Stifte und Bächer an Bode
  • Amigs bin ich es Ding
  • wo nüt dänkt und nüt wött
  • meischtens isch es mir
  • zmüesam en Mensch zsi
  • Denn suech ich mir
  • en guete Ort in dr Wohnig
  • und verwandle mich
  • in e Monstera
  • als Usglich
geb. 1997 in Basel. Nennt seit 2012 Spoken Word-Bühnen ihr zweites Zuhause. Daneben gibt sie Schreibworkshops, publiziert Texte und veranstaltet Lesebühnen. 2021 erschien ihr Lyrikband «Schalengespräche». Im Nebenjob absolvierte sie den Master der deutschen Literaturwissenschaft in Bern, wo sie auch wohnt.

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klarkommen

Nadia Guddelmoni
23. April 2024
  • trübsal, türspalt
  • bett aus anemonen
  • moan, zusammen lichtkegeln,
  • come, spass auf den knien
  • ein hauch von haut, stossgebet.
  • leck mir was süsses von der stirn,
  • damit ich die trauer-trousers
  • ausziehen kann.
geb. 1999. Manchmal als Nadia Cannelloni anzutreffen, schickt sich selbst Gedichte auf Signal und schreibt Kurzgeschichten, die gelegentlich bei Literaturzeitschriften erscheinen. Sie ist Buchhändlerin, spricht und spinnt bei Lesefeld, studiert Literaturwissenschaft und arbeitet als Redaktionsmitglied bei Denkbilder.

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Geheimnis

Larissa Waibel
22. September 2023
  • Es gab eine Zeit
  • da musste mein Geheimnis
  • um jeden Preis sicher
  • bewahrt werden
  • vor gierigen Augen
  • und druckerschwarzen Fingern
  • und spöttisch lachenden Kehlköpfen

  • einmal klopfte es
  • klopfklopfklopf
  • wer ist da: keine Antwort
  • man hustete vor meiner Tür
  • und es klopfte noch einmal
  • klopfklopfklopf

  • ich sagte: ich komme
  • gleich und liess Wasser laufen:
  • Tarngeräusche

  • und suchte
  • all das Papier zusammen
  • Verbrennen würde Asche hinterlassen
  • dachte ich
  • und begann
  • zu essen, hinunterzuschlingen
  • zu schlucken, ohne zu kauen

  • und mit vollem Mund wiederholte ich:
  • ich komme gleich ich wischte
  • mir mit dem Ärmel meines Pullovers den Mund ab
  • dann öffnete ich
  • mit einem Magen voller Worte
  • die Tür

  • ja, bitte?
Geboren 1996 in Winterthur, hat Deutsche Literaturwissenschaft, Literaturvermittlung und Anglistik an der Universität Zürich studiert und war drei Jahre lang Co-Redaktionsleiterin der Literaturzeitschrift „Denkbilder“. Sie lebt und arbeitet als Lektorin in Zürich.

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