Wintermorgen, diaphan

3. Februar 2023
  • die Bäume stehen leer …
  • als feinster Dunst hängt Nebel
  • in der Luft; und die Sonne milchigweiß,
  • bleich wie der Mond am Himmel.
  • Ist dem Moment zu trauen? Ungeschützte
  • Augen können in die Sonne schauen!
  • Die Kamera gezückt, gezoomt.
  • Das Bild – beinah schwarzweiss – hält
  • klar erkennbar zwei Sonnenflecken fest,
  • zwei Magnetfelder sich dunkel von der
  • Sonnenkugel abhebend. Der durchsichtige
  • Dunst ist der perfekte Filter; mein Ich löst
  • sich in Selbstvergessenheit
geb. 1954 in Judenburg, Österreich, lebt in Zürich. Regelmässig Veröffentlichungen von Gedichten in Anthologien, acht Einzelpublikationen. Regelmässig Zusammenarbeiten mit Musikern, zuletzt mit Burkhard Kinzler «Hinter den Dingen»: Komplementa zum Requiem KV 626 von Wolfgang Amadeus Mozart (2021, mit Aufführungen 2022). Zuletzt «So gegenüber» (2018, Wolfbach).
Dieses Gedicht wurde von Nathalie Schmid kuratiert.

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Kommentar

Ich muss zugeben, dass ich die Bedeutung von diaphan nachschlagen musste. Dabei murmelte ich das Wort immer wieder vor mich hin. Einerseits, weil ich es mir einprägen wollte, andererseits, weil es so wunderbar klingt, so viel klangvoller und passender als durchscheinend oder durchsichtig. Etwas Zartes schwingt mit, etwas Durchscheinendes, Klang und Bedeutung verschmelzen. Es ist mir vollkommen klar, warum Ingrid Fichtner dieses Wort wählt, um ein Licht zu beschreiben, das erst noch einen Schleier durchdringen muss, bevor es bei uns landet, als käme es von einer sanften Sonne, wie es sie nur im Winter gibt, als bräuchte man sich nicht vor ihr zu schützen. Ein Wintermorgen, der in Gedicht und Bild festgehalten werden will, der etwas Sphärisches hat, wie das Gedicht, das ihn in Wort und Bild festhält. Nach einem kurzen Zögern («Ist dem Moment zu trauen?»), bringt der Reim die Versicherung: «Ungeschützte/ Augen können in die Sonne schauen!». Das Bild wird gemacht.

Ich bin eine Naturlyrikerin, schreibt Ingrid Fichtner, als sie mir den Text schickt. Und die Naturlyrikerin weiss, dass sie mit ihrem Blick in die Natur Bilder frei legt, die immer mehr sind, als ein Abbild, mehr als ein Foto, das der Text mit Worten erschafft, sie weiss, dass die Bilder, eingebettet in Rhythmus und Klang ihre Wirkung und ihre Bedeutung vertiefen und vervielfachen. In der Natur finden sich die «Filter», die unseren Blick für einen Moment ausweiten, gar von etwas zu lösen vermögen, das wir Ich nennen. Das Gedicht endet an diesem Ort und lässt uns dort zurück, das Ich löst sich nicht auf, es löst sich von etwas ab, was vorher anders gesehen wurde. Die Frage, ob dem Moment, der beobachtet wird zu trauen ist, wird zur Frage, ob dem Blick zu trauen ist. Denn immer liegt ein Filter zwischen mir und der Welt, zwischen mir und meinem Blick auf die Welt. Dieser Filter wird hier wahrnehmbar gemacht und aufgezeigt. Es sind immer verschiedene Schichten und Dimensionen der Wahrnehmung, die unseren Blick lenken. Sich davon zu lösen ist eine Übung in Ausdehnung und Selbstvergessenheit. Eine Kunst, die dieses Gedicht perfekt beherrscht.

Nathalie Schmid

geb. 1974, lebt in Freienwil, CH. Studium am Deutschen Literatur Institut Leipzig, Arbeit als Autorin und Erwachsenenbildnerin. Veröffentlichung von drei Gedichtbänden. Zuletzt «Gletscherstück» (2019, Wolfbach). Im Februar 2023 erscheint der Roman «Lass es gut sein» (Geparden Verlag, Zürich).

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