Raumschiff

9. Dezember 2022
  • In den frühen Morgenstunden
  • sehe ich im Traum das Gedicht als
  • Materie flüssig und zugleich fest
  • wie Quecksilber. Wie es sich verändert
  • und zugleich die Form bewahrt.
  • Es ist noch dunkel Krähen hocken still
  • im Gerippe der Bäume der Hund scheisst
  • hinters Boot das schon seit Jahren
  • am selben Fleck steht. Ich hole Brot
  • später mache ich Feuer während
  • es aufhört zu regnen. Du stehst
  • im Türrahmen mit Motorenöl
  • an den Händen. Quecksilber
  • ist nur ein anderes Wort
  • für den Gott des Tauschhandels.
  • Florian kommt zu Besuch.
  • Sein achtsamer Blick wärmt uns
  • sein Verständnis für die Dinge.
  • Wie wir in einem Raumschiff
  • durch die Jahre gleiten ich wollte
  • sie würden sichtbar ein Gemälde
  • in das wir fallen Licht und Linien
  • zwischen den Händen das Glimmen
  • im Ofen alles zusammengeführt in
  • einem Lächeln deinem verschlafenen Blick.
  • Man würde auch sehen wie hell
  • der Ginko leuchtet mit seinen vielen kleinen
  • Blättern wie ein Angebot von morgens halb sieben
  • bis abends kurz vor sechs. Unsere Tochter
  • bringt den Hund zurück die Glut im Ofen
  • erlöscht Kaffeeduft mischt sich in Florians Zigaretten.
  • Das Öffnen und Schliessen der Zimmertüren
  • in der Stille in der wir sitzen. Ich sehe
  • wie etwas Zärtlichkeit von meinen Fingerspitzen
  • ins Spülbecken fällt. Später
  • fahren wir einkaufen über glänzende Strassen
  • um uns Felder die Jahre
  • eine Bewegung ins Licht als wäre sie
  • niemals rückläufig
  • als ginge es nur in eine Richtung
  • und nie zurück.
geb. 1974, lebt in Freienwil, CH. Studium am Deutschen Literatur Institut Leipzig, Arbeit als Autorin und Erwachsenenbildnerin. Veröffentlichung von drei Gedichtbänden. Zuletzt «Gletscherstück» (2019, Wolfbach). Im Februar 2023 erscheint der Roman «Lass es gut sein» (Geparden Verlag, Zürich).

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Zähflüssiges Schwermetall

Nathalie Schmids «Raumschiff» startet mit einer poetologischen Betrachtung, die die Wirkweise des Gedichts vorgibt (und der der Text danach auch folgt). Damit platziert sich das Gedicht genau in den durch die Betrachtung aufgespannten Zwischenraum: Flüssig und fest zugleich, mäandert das Gedicht zwischen den eigenen Aggregatszuständen Gegenwart und Zukunft. Die Gegenwart ist bekannt und ungefährlich, steht aber auch «seit Jahren/ am selben Fleck». Die Zukunft präsentiert sich hingegen als Traumgebilde, in dem sich die Jahre im metaphorischen Raumschiff fortbewegen und zur Essenz der Gegenwart zerfallen: «alles zusammengeführt in/einem Lächeln deinem verschlafenen Blick». Die ersehnte Zukunft verlangt keinen utopischen Umsturz des Gegebenen, sondern folgt konsequenterweise aus dem Wunsch, die eingefrorene Gegenwart weiterzuleben; Gegenwärtiges in Zukünftiges zu verwandeln. Sich zähflüssig, aber stetig nach vorne zu bewegen. Beide Zustände werden mit vielen kleinen Beobachtungen umrandet, welche die innere Gespaltenheit des lyrischen Ichs offenbaren. Weder dem einen noch dem anderen Zustand möchte es sich gänzlich hingeben. Trotzdem schliesst das Gedicht mit der Feststellung, wonach Bewegung nur in «eine Richtung/ und nie zurück» möglich ist. Nathalie Schmids Gedicht ist also kein Rückläufiges, das sich unter dem Deckmantel der Poesie als ewiggestrig präsentiert, viel eher ist es an eine realistische Erwartungshaltung gekoppelt: Die konstante Fortsetzung der Gegenwart offenbart eine gewisse Verlustangst und den Wunsch nach Konservierung der Umstände. Das Gedicht verhält sich zu seinem poetologischen Prinzip genauso, wie sich die Gegenwart zur Zukunft und das feste zum flüssigen Quecksilber verhält: ein Tauschhandel ist nur möglich, wenn der eine Zustand in den anderen übergeht, das Alte dem Neuen die Hand reicht und die Erkenntnis reift, dass sich die Vergangenheit nicht konservieren lässt. Ausser natürlich, man hat ein Raumschiff zur Hand. Sei es auch nur ein in der Glut des Ofens Erträumtes.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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