Erste Tropfen

22. November 2022
  • Erste Tropfen: Dodola
  • melkt ihre himmlischen Kühe
  • Stratus Altostratus ihre prallen Bäuche
  • die dräuenden Euter. Dodola legt sich
  • ins Zeug zieht die Zitzen lang: Regen
  • prasselt strömt ergiesst sich in Bächen
  • Der Verkehr stockt Sirenen Blaulicht
  • eine Windhose über dem See oj oj dodo
  • genug jetzt zieh ab mit deiner Herde
  • Dodole!
geb. 1945. Geboren und aufgewachsen in Zürich. Besuch des Vorkurses an der Schule für Gestaltung (heute ZHDK). Seit 2000 freie Autorin und Ägyptisch-Arabisch-Lehrerin in St.Gallen. Immer wieder auf Reisen, vor allem ans Meer. Zuletzt: «DRIFT» (2022, Caracol), «Auch Götter haben Gärten» (2019, Wolfbach).

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Kommentar

Ein Frühlings-, ein Sommergedicht gar: Dodola (je nach Land/Region auch Perperuna) ist eine Tradition heidnischen Ursprungs aus dem südosteuropäischen Raum. Traditionellerweise wurden im Frühjahr oder bei grossen Dürren Regentänze aufgeführt, damit die Göttin Dodola das Land mit Regen segnen möge. Verbunden wird Dodola (die Tradition) mit dem Göttervater Perun (lies: slawischer Zeus) oder eben seiner Frau, Dodola.

Oft frage ich mich ja, woher die Gedichte kommen, die dieses Magazin erreichen und was die Gedichte verbindet. Im Spätjahr 2022 finden sich viele Gedichte, die sich mit Krieg, Krisen, der Umwelt poetisch auseinandersetzen. Oft endet diese Auseinandersetzung pessimistisch, oder sagen wir: unaufgelöst. Monika Schnyders Gedicht scheint da eine Gegenthese zu vertreten, es wirkt fröhlich, Göttin Dodola taucht auf, melkt ihre Kühe und zieht wieder von dannen. Gekonnt erscheinen im Gedicht die verschiedenen Namen Dodolas, werden traditionelle Gesänge aus dem Serbischen zitiert («oj oj dodo») und am Schluss wird die lautmalerische Qualität des Namens zum Befehl «Dodole!» hervorgehoben. Alles harmonisch. Kurzer Regenschauer und weiter gehts. Gut, machen es einem Gedichte, und hier speziell Monika Schnyders Gedicht, nicht so einfach. Unterkomplexität kann man ihnen selten vorwerfen. So auch hier: Warum werden die Gesänge eines im 21. Jahrhundert längst nicht mehr praktizierten Gebrauchtums bemüht? Gab es eine Dürre (eine Frage, die man im Jahr 2022 gar nicht mehr beantworten muss)? Oder andere Zeichen, die nach Dodola verlangten? Liest man genauer, verschwindet plötzlich auch die Harmonie: Warum stockt der Verkehr? Warum Sirenen, Blaulicht? Warum muss Dodola, kaum hat man sie hergebeten, auch schon wieder weggescheucht werden?

Also doch kein Sommergedicht? Doch keine harmonische Betrachtung der Welt? Oder um ein ausgelutschtes Sprachbild zu bemühen: Es brodelt unter der Oberfläche. Also auch keine Auflösung, keine Harmonie. Es tropft, mit unklarem Ausgang. Und trotz der vielen Fragen: Die Frage, weshalb diese Gedichte das Magazin erreichen, sie stellt sich mir nie. Weil jedes Gedicht, die Antwort darauf selbst gibt. Warum also Regentänze Ende November? Dodole!

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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